Seelenbrand
Wenn die Seele nach Liebe schreit
Eine Geschichte, die das Leben schrieb.
Die Ereignisse, die ich schildere, haben tatsächlich stattgefunden. Eine Frau kam zu mir in die Praxis und bat um Rat. Ich will sie Johanna nennen. Sie hatte vor, zur Stillung ihrer Bedürfnisse, eine neue Beziehung einzugehen. Sie war verheiratet, innerhalb von sechs Jahren sechs Kinder, das Jüngste noch im Kinderwagen. Sie stand vor einer Entscheidung, die nicht nur sie selbst betraf, sondern die ganze Familie.
Der Mann und Vater der Kinder, Hermann, lebte ein eigenartiges Leben. Er lebte und nährte die Familie aus dem Erbgut reicher Vorfahren. Begütert und verwöhnt brauchte er nicht zu arbeiten. Er vertrieb sich die Zeit philosophierend, meditierend, und genoss dazwischen seine Frau, die gierig auf Nähe und Intimität war. Er entsprach ihr sexuell. Aus dem Anspruch auf Nähe und Berührung entstanden die Kinder. Sie schützten sich nicht. Die Unmittelbarkeit der Begierden war viel zu gross. Kaum berührt verschmolzen sie ineinander. Das Bedürfnis war kaum zu befriedigen.
Ausgeschlossen bei solchen Akten blieb das, was sie sich wünschte und zur Existenz bitter brauchte: Zärtlichkeit, Bettgeflüster, Kuscheleien und, wohl das Wichtigste, das ineinander Verschmelzen. Sie glaubte lange, sie könnte es über die Kinder bekommen. Eine Illusion. Die Kinder laugten sie aus. Genau wie der Mann. Davon war sie überzeugt. Das, was er ihr bot, war ein finanziell unabhängiger, gehobener Lebensstandard.
Immer wenn sie mit ihm darüber reden wollte, flüchtete er auf einen Baum im Garten, verkroch sich auf einem selbstgebauten Hochsitz in der Krone. Blieb dort und philosophierte. Irgendwann zum Essen kam er wieder herunter. Sie verzweifelte und suchte nach einem Ausweg. Oft nahm sie eines der Kinder mit ins Bett, manchmal auch zwei, damit sie warme Haut spüren konnte. Eine der Töchter gedieh zu einer molligen Ersatzmutter …
Zu dieser Zeit liess sich ein alternativ orientiertes Ehepaar auf einem kleinen Heimwesen in der Nachbarschaft nieder. Daraus entwickelten sich rasch rege Kontakte, denn Johanna war Hauswirtschaftslehrerin und ganz auf eine gesunde Ernährung ausgerichtet. Die Gespräche, die daraus entstanden, anregend, oft die eigenen Ansichten bestätigend. Aufbauend und mutmachend. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen verdichtete sich rasch, die gegenseitigen Besuche nahmen zu, das gegenseitige Aushelfen bald eine Selbstverständlichkeit.
Die beiden Männer blieben davon ausgeschlossen. Hermann, der Baumphilosoph, gewahrte es kaum, fühlte sich jedoch entlastet und Kurt, der andere Mann schien es nicht zu kümmern. Wohl redete er ab und zu mit der Nachbarin einige freundliche Worte. Fragen nach dem Befinden der Familie, dem Wohlergehen des Ehegatten. Harmlose Worte, aber von einer warmen Eindringlichkeit, die Johanna tief berührten. Seine Worte versprachen nichts. Seine Stimme jedoch drang durch alle Poren und weckte ihre Wünsche. Ein Schrei öffnete ihre Seele. Die ganze ungelebte Zärtlichkeit öffnete den Mund. Ein Hungerschrei.
Johanna wusste nicht wie und was ihr geschah. Immer mehr trieb es sie ins Nachbarhaus. Immer mit der Hoffnung er möge anwesend sein und einige warme Worte an sie richten. Sie wurde erfinderisch, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, lediglich um in seine Nähe zu kommen. Oft eine Frage, deren Antwort sie schon kannte. Er bemerkte die Absicht, blieb freundlich und warm, vermied jede Berührung. Er schien für weibliche Wünsche immun zu sein. Ein Neutrum.
Sie quälte sich, glaubte jedoch, dass der Mann es sei, der sie peinigte. Hermann, der angetraute Gatte, philosophierte über seine Lebensweisheit in der Krone eines Baumes, der Nachbar tat meistens so, als ob sie nicht existieren würde. Verschlossen für jegliches Mitfühlen, verschlossen für fremdes Leiden. Diese Gleichgültigkeit traf sie härter als offene Ablehnung.
„Ich habe ein Recht auf Leben. Ich habe ein Recht darauf, dass mein Hunger gestillt wird“, sagte sie mir mehrmals.
„Für all das, was du aus deiner Kindheit mitbringst, kannst du den Mann nicht verantwortlich machen. Er kann dir die Streicheleinheiten, die dir deine Mutter vorenthielt, nicht geben. Da ist er überfordert.“
Ich versuchte ihr zu erklären, dass sie für ihren Hunger als erwachsene Frau selber verantwortlich sei.
„Vielleicht musst du zu einer Frau gehen, zu einer mütterlichen Figur, zu einer Atemtherapeutin, zu einer Masseurin oder ähnliches, ganz bewusst und dir holen, was du brauchst. Vielleicht musst du die Liebe einer Frau suchen.“
„Das ist genau meine Frage, weshalb ich zu Ihnen gekommen bin: Darf ich zur Stillung meiner Bedürfnisse mit einer Frau eine erotische Beziehung eingehen? Mit ihr im gleichen Bett schlafen – einander intim berühren? Ich habe nämlich das Anstehen beim Manne satt. Bis heute habe ich noch keinen erfahren, der mich bedingungslos, ohne sexuelle Absichten, in die Arme schloss. Der einzige Anziehungspunkt: Die Vagina. Ich hatte stets den Eindruck, sie wollten lediglich ihre Spermen loswerden, damit sie zur Ruhe kommen. – Wir sind doch alle Menschen und mein Hunger ist ein menschlicher. Ob Mann oder Frau. Wenn ich meinen Mann zärtlich berühre, geniesst er das. Er muss deswegen nicht zu einer Vaterfigur gehen.“
„Der Mann hat es einfacher. Er kann sein Mutterdefizit bei seiner Gattin eindecken. Voll und ganz. Lückenlos. Was er hingegen von seinem Vater nicht bekam, bekommt er auch von einer Frau nicht. Ich glaube du verstehst mich.“
Den Rest der Geschichte erzähle ich mit ihren Worten. Ich glaube, er ist mir wortwörtlich in Erinnerung geblieben:
– Als eines Tages seine Frau wegging, wähnte ich mich am Ziel meiner Wünsche. Ich glaubte mich von ihm verstanden. Seine Stimme liebkoste mich. Daneben konnte ich nichts mehr wahrnehmen. Mein ganzes Sehnen war auf ihn ausgerichtet. Dabei vernachlässigte ich sogar meine Kinder. Zwischendurch konnte ich meine Bedürfnisse nur noch als Schmerz empfinden. Ein Wahnsinn.
Abgemacht war, dass ich für ihn das Mittag- und Abendessen zubereite. Aber er kam nicht zu uns. Am ersten Tag dachte ich, er sei gehemmt. Deshalb ging ich zu ihm hinüber. Das Haus stand offen. Ich fand jedoch keinen Mann. Er schien spurlos verschwunden. Ich suchte ihn und rief nach ihm. Nichts. Ich ging durchs ganze Haus. Im Keller fand ich endlich eine Tür.
HOCHEXPLOSIV
stand als Warnung in grossen roten Buchstaben darauf. Ich pochte. Keine Antwort. Ich stiess die lediglich angelehnte, schwere Brandschutztüre auf. Ich hörte Geräusche und als ich näher hinschaute, sah ich am Ende eines Ganges einen Lichtschimmer. Ich wagte nicht einzutreten und rief seinen Namen: Kurt. Ein zweites Mal, lauter. Es kam keine Antwort. Von meinem Gemahl wusste ich, dass ich in der Intimsphäre eines Mannes nichts zu suchen hatte.
Unerwartet, etwas später stand er vor mir. Er war wie ein Höhlenforscher gekleidet, mit Helm und Lampe ausgerüstet – in der linken Hand ein Laborglas mit einer dampfenden Flüssigkeit. Er wirkte faszinierend auf mich. Alchemistisch. Mein Erstaunen war bestimmt nicht kleiner als seines, als wir einander in die Augen schauten. Nur einen Augenblick. Ein kurzes Erkennen. Diese Augen, die irgendwo die Ewigkeit berührten.
Ich erklärte ihm, dass ich für ihn gekocht habe und das Essen bereit sei.
Er schüttelte den Kopf und sagte, dass das warten könne. Er sei ausgerechnet jetzt in einem ausserordentlich interessanten Prozess, deshalb müsse er noch ein kleines Stück weiter grübeln. Er sagte ganz klar ‚grübeln’, daran erinnere ich mich genau.
Er ging wieder zurück in den Stollen und ich stand da – frustriert und alleine. Der Mann war von seinem Tun völlig aufgefressen. Mein Wunschgebäude bröckelte, aber ich hielt verzweifelt daran fest.
Ich hielt es alleine nicht mehr aus. Mein Mann sass meditierend in der Baumkrone und der andere grübelte im Keller in einem geheimen, unterirdischen Labor, von dem niemand wusste, für was es gut sein soll.
Ich wanderte zwischen dem Nachbarhaus und meinem mehrmals täglich hin und her, immer mit der Hoffnung, dass das, was ich brauchte, doch noch geschehen würde. Nachts sass ich stundenlang vor seinem Schlafzimmer. Wenn er mich sah, ging er wie ein Blinder an mir vorbei. Offenbar existierte ich für ihn nicht mehr. Er war völlig in sich versunken.
Man sagt, dass gute Männer ein Hobby haben. Von dem her hätten die beiden, derjenige in der Baumkrone und jener im Stollen ausgezeichnete Partner sein müssen. Sie waren jedoch von ihrem Zeitvertreib verschlungen, durch ein Tun, dessen Sinn ich nicht begreifen konnte.
Als seine Frau unerwartet zurückkam, sass ich völlig aufgelöst und in Tränen, auf dem Boden vor seiner Schlafzimmertür. Sie war nicht überrascht und sagte beinahe heiter: „Von diesem durchgedrehten Pastoren kannst du nichts erwarten. Der ist auf Goldsuche.“
Ich stand schwankend auf und suchte nach einem Halt. Sie, Lora, nahm mich in die Arme. Alles andere geschah von selbst. Die Zärtlichkeit begann zu fliessen. Am Morgen erwachten wir gemeinsam in ihrem Ehebett. Wir hatten gefunden, was wir brauchen. Und jetzt sitze ich vor Ihnen und bedarf Ihren Rat: Darf ich das tun?“
„Weshalb fragst du mich? Du bist eine erwachsene Frau und kannst selber entscheiden. Was soll diese Frage im Zeitalter der Gleichberechtigung?“
„Es geht um das schlechte Gewissen, das mir eingepflanzt wurde. Deshalb meine ich, ist es immer gut, wenn ein väterlicher Mann nichts einzuwenden hat und seinen Segen gibt. Das beruhigt ungemein.“
„Es gibt nur einen Vorbehalt: Die Familie darf dabei nicht zerstört werden. Die Kinder, die eine Frau geboren hat, sind das wertvollste Gut, das ihr anvertraut wurde !