Des Lebens Nüchternheit oder das zerronnene Glück
Sie wurde zu einem Leben gezwungen, das ihr nie entsprach
Sie hatte wie die meisten jungen Menschen ihren Traum von Glück. Ein Traum, der einen edlen Prinzen voraussetzte, der sie aus ihrer Armut erlöste. Aber sie war keine Ergebene, die träumend in irgend einer Ecke auf ihren Prinzen wartete. Gar nicht. Sie zog in jungen Jahren aus, um ihr Traumland zu suchen, so wie es ihr eine innere Stimme gebot. Allerdings kam sie nicht sehr weit, wenn es gut geht zwei Tageswanderungen vom elterlichen Wohnort entfernt. Dort fand sie eine Anstellung als Serviertochter in der Dorfbeiz einer kleinen Ortschaft. Da sie hübsch war, bekam sie bald die Verehrung der jungen Männer, nicht nur des Dorfes, sondern auch jene der umliegenden Gemeinden. Das gefiel ihr natürlich sehr. Sie genoss die Auswahl.
Sie wusste ihr ganzes Leben nicht wie es eigentlich geschah: Sie verliebte sich in einen humorvollen Jungen, der die Begabung hatte, die Beizbesucher über Abende zu unterhalten. Zudem hatte er gute berufliche Aussichten in der Führungsschicht der heimischen Industrie, so dass sich ihr Traum in etwa zu erfüllen schien. Sie hatte noch andere Angebote, aber diese schlug sie aus. Die Jungs waren ihr zu ernsthaft und boten bestenfalls eine Menge Arbeit auf einem kleinen Bauernhof. Es war kein Grossgrundbesitzer dabei mit Mägden und Knechten, denen sie hätte vorstehen können. Obwohl der Auserwählte ihrem Traum nicht entsprach, blieb sie. Er versprach ihr immerhin ein lustvolles Leben in einer gehobenen Position. Weshalb sollte sie da weiter ziehen, in die grosse, weite Welt hinaus und für ihren Traum die Erfüllung suchen? Sie entschied sich für den lustigen Beizengänger.
Eigentlich hätte für sie eine goldene Zeit anbrechen müssen. Die materiellen Vorgaben waren gegeben. Gutes Einkommen, eigenes Haus, grosser Garten und Baumgarten mit vielen Obstbäumen. Aber leider ist nicht alles Gold was glänzt. Des Lebens Nüchternheit geht selten auf Träume ein. Die Enttäuschung kam sehr bald und abrupt. Der lustige Beizengänger entpuppte sich nach der Heirat als Haus-Tyrann der primitivsten Art. Eifersüchtig, jähzornig mit miserablen Umgangsformen. Ein von Angst besessener Schreihals. Unberechenbar. Im Bett ein brutaler Partner, der nicht auf ihre Gefühle eingehen konnte. Das war alles. Rasch trafen Kinder ein. In vier Jahren drei an der Zahl.
Immerhin ein sicheres Einkommen. Meinte sie. Die Situation änderte sich mit einem Schlag, quasi aus heiterem Himmel. Die Herren der Schöpfung, welche die Weltwirtschaft beherrschten, wussten nichts besseres als mit Betrügereien die Finanzwelt zu manipulieren und zu untergraben – Banken krachten zusammen, Aktienkurse fielen in den Keller und es gab keine Arbeit mehr. Auch ihr Mann stand bald ohne Einkommen auf der Strasse.
Da ihr Gatte dem Lustprinzip verfallen war, musste sie für die Familie bald selber aufkommen. Zu den Kindern und zum Haushalt kam der grosse Garten, der die Voraussetzung für die Selbstversorgung schaffte. Jetzt hatte sie ein überfülltes Tagespensum und Nachts einen Nimmersatten, den sie dem Frieden zu liebe bedienen musste. Alles wurde ihr mehr und mehr zuviel. Zudem trafen noch zwei weitere Kinder ein – emotional unerwünscht.
Für den Gatten sah die Situation etwas anders aus. Wer will es ihm verübeln. Da er ein beizen-füllender Unterhalter war, sass er mehrheitlich dort und genoss sich selbst als Mittelpunkt. Mit Getränken wurde er stets grosszügig frei gehalten. Das Zuhause war Mutters Sache. Die Frau war für ihn, gleich wie für die Kinder, die Mutter. Die Kinder waren ihm zuviel und die Mithilfe in Haus und Garten auch. War er daheim, lag er träge herum und tyrannisierte Frau und Kinder. Wehe, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand. Woher es kam, kümmerte ihn nicht. Für die Sorgen der Mutter hatte er kein Ohr.
Weshalb blieb die Mutter? Wegen den Kindern. Natürlich. Sie war eine gute Mutter und konnte die Kinder nicht im Stich lassen. So wurde sie zu einem Leben gezwungen, mit dem sie nicht einverstanden war, nicht einverstanden sein konnte. Ein Leben, das ihr aufgezwungen wurde. Der Mann hat die Erwartungen und Hoffnungen, die sie an ihn hatte, nicht erfüllt. Die Enttäuschung liess sie vereinsamen. Sie vermochte nicht aus den vielen kleinen Ereignissen des Alltages und den Schönheiten der Natur Kraft und Freude zu gewinnen. Sie verbitterte und fühlte sich mehr und mehr als Opfer. Ihre Wut auf das Unrecht des Lebens, auf die Ungerechtigkeit des Schicksals, alias Gott, ihr gegenüber, stieg ins Unermessliche. Sie begann sich dafür zu rächen. Aus dem Alltag ergaben sich stets Situationen, die sie für diesen Zweck einsetzen konnte. Spontan setzte sie auch ihre Kinder dafür ein. Ziel war der Vater, der an allem Schuld war, ein Versager durch und durch. Sie konnte bald nicht mehr unterscheiden ob dieser Vater ihr Mann betraf oder Gott-Vater selbst. Alles, was mit Vater zu tun hatte oder zu tun haben könnte kam in denselben Topf. Schliesslich war es die Männerwelt, die nicht wirtschaften konnten und die Welt in den Ruin führte.
Die ursprüngliche Liebe kippte in puren Hass. Hassgefühle nährten den Alltag. Die Kinder und der Mann bekamen es zu spüren. „Der Vater ist an allem Schuld!“ Das hörten die Kinder bei jeder Gelegenheit. Sonst schwieg sie und frass alles in sich hinein. Ein wildes Gewächs entwickelte sich an ihrem Hals. Die Schilddrüsen vergrösserten sich. Ein Kropf. Ein Jodmangel wie es in der Medizin heisst? Die Psychosomatik sieht noch andere Hintergründe. Ein wichtiger Grund ist wohl, dass die Betroffene zu einem Leben gezwungen wurde mit dem sie nie einverstanden sein konnte.
Sie schwieg und verschluckte ihre Gefühle.
Sie hätte es viel einfacher haben können, aber eine Art von Hamstern trieb sie zu Höchstleistungen an. Ihre Überfürsorge kannte keine Grenzen. So wurde Jahr für Jahr Gemüse angebaut, Kartoffeln, Rüben, Kohl und vieles andere, und im Herbst eingekellert, das für einige Familien ausgereicht hätte – und immer, Jahr für Jahr musste vor der neuen Ernte mehr als die Hälfte der eingelagerten Ware, teilweise schon angefault und ungeniessbar geworden, entsorgt werden. Eingemachtes in Gläsern und Büchsen lagerten für mehrere Jahre im Keller.
Dazu kam noch ein weiteres Bedürfnis nach Massenhaftem. Blumen. Da reichten nicht einige Gladiolen und Tulpen, Narzissen und dergleichen im Garten, woran sie sich erfreuen konnte. Nein und nochmals nein. Es mussten Unmengen sein. Vierhundert Gladiolen, ebenso viele Tulpen und so weiter, die jedes Jahr mehrmals gezählt und allen bekannten und unbekannten Leuten mitgeteilt werden musste. Die Bewunderung und das Staunen blieb nicht aus, aber auch ein Unverständnis, dass eine der Armut verfallenen Frau das wenige Geld für solchen Überfluss ausgeben konnte. Aber für sie war es wichtig: Die Menge machte es aus und nicht die Schönheit, das Innige.
Die tägliche Arbeit – auch der Haushalt für die siebenköpfige Familie musste besorgt werden – war erschöpfend. Jeden Abend fiel sie todmüde ins Bett, aber dann kamen die unersättlichen Ansprüche des Gatten. Sie hatte keine andere Wahl als dem Frieden zuliebe zu entsprechen, sonst war das Feuer im Dach. Ein tobender Mann, zum geilen und brutalen Raubtier geworden, schlug laut schreiend und tobend herum. Sie sagte es überall und immer wieder: „Ich tue es dem Frieden zuliebe und bleibe wegen den Kindern.“
Trotzdem identifizierte sie sich mit diesem Ungeheuer, immer dort, wo es einen Vorteil versprach. So war sie unter den Leuten nicht schlicht Frau Maria Bünzli, sondern Frau Thomas Bünzli, und so unterschrieb sie, wenn nötig, auch ihre Briefe, selbst Dokumente: Frau Thomas Bünzli, mit dem Vornamen ihres Mannes.
Sie träumte bis ins hohe Alter ihren glückverheissenden Traum: Eine Herrin die ihre Mägde herumkommandiert und dank ihres Gatten, dem Herrn Baron, Grossgrundbesitzerin geworden ist. Bücher boten den Stoff, Bücher der Hedwig Courths-Mahler, und andere mit gleichen Themen. – Der Baron heiratet eine seiner armen aber tüchtigen Mägde, dadurch wird diese zur Herrin und kommt in eine Machtposition. Schön und edel. Immer das gleiche Thema in unzähligen Variationen. Mädchenträume bis ins hohe Alter.