Der asketische Eros
Wer heute im Internet nach dem Begriff Eros sucht, findet abertausende Seiten, die damit verhüllend Sex und Pornografie anbieten. Eine einfältige Verwässerung des Begriffs. Ausdruck der Unbildung und der Banalisierung. Für den normal Gebildeten hat der Begriff Eros noch immer die klassische Bedeutung. Im alten Griechenland war er der Gott der sinnlichen Liebe. Die Philosophie allerdings meint damit den Drang nach Erkenntnis und schöpferisch geistiger Tätigkeit. Die Pädagogik umschreibt so die zwischen Erzieher und Schüler herrschende geistig-seelische Liebe. Der asketische Eros ist der Inbegriff für die Unterdrückung der eigenen kreativen Fähigkeiten – aus Zwang oder eigenem Willen – zu Gunsten einer materiell produktiven Leistung, die dem eigenen Wesen fremd ist. Also das, was der Arbeiter und Alltagsmensch seit eh und je für sein Überleben tun muss.
Wenn wir unter Eros in klassischer Form den Drang nach kreativer, kulturschaffender Arbeit verstehen, so erfassen wir auch, dass unter dem asketischen Eros nicht die Unterdrückung der Sexualität gemeint ist, sondern jener Zwang, welcher ein kultur-kreatives Wirken verhindert und den Menschen in die Entfremdung, hinweg von seinem Wesen, führt. Jeder strebt nach einer angemessenen Verwirklichung seines erotischen Potentials. Wird dies durch Unterdrückung behindert, entstehen jene sexuellen Auswüchse, wie sie unsere heutige westliche Kultur kennt. Statt in eine sexuelle Unabhängigkeit führt sie in eine Bordellkultur, einen Wirtschaftszweig, der nicht nur in der Deutschen Bundesrepublik, Jahr für Jahr, mit steigender Tendenz, Milliardenumsätze einfährt. Das meinte die sexuelle Befreiung von der kirchlichen Geboten und den Tabus nicht. Sexuelle Befreiung meint das Freiwerden vom sexuellen Zwang und das Hineinwachsen in die den Mensch erhaltenden Kräfte, in eine Kultur schaffende Energie, welche nicht nur der sozialen Gemeinschaft, sondern auch der eigenen Entwicklung dient. Ein gutes Leben für sich und andere, ohne geistige Verarmung.
Die sexuelle Befreiung, die in den 60er Jahren durch die Humanistische Psychologie begann, führte massenhaft in eine Swinger- und Bordellkultur, welche das Tier im Menschen jauchzen lässt und die höheren erotischen Kräfte leugnet. Von Anbeginn zeichnete sich diese Tendenz ab, wobei sich der kulturell-kreative Weg rasch von der Banalisierung trennte.
Durch die neuen Therapieformen, die auf Selbsterfahrung beruhten, wurden die siebziger und achtziger Jahre in jeder Hinsicht zu einem Experimentierfeld. Ausgenommen davon blieb die traditionelle klinische Psychotherapie und Psychiatrie, die sich konservativ von diesen Tendenzen fern hielt. Erst später, als sich der Spreu vom Weizen getrennt hatte, wurde das für sie Wertvolle selbstverständlich „wissenschaftlich“ übernommen.
Das damalige freie, unkontrollierte Angebot reichte vom banalen Sex- bis zum esoterischen Wochenend-Workshop. Zugelassen zu solchen Veranstaltungen waren TeilnehmerInnen, die für sich, ihr Tun und Lassen die Verantwortung übernahmen, auch die Verantwortung für mögliche Folgen, die daraus entstehen konnten. An und für sich war das ein ausgezeichneter Ansatz, taugte jedoch nicht sehr viel, weil es unqualifizierte Anbieter zur Fahrlässigkeit motivierte. Gut die Hälfte der damaligen Anbieter hätten diesen Reifeprozess zuerst mit sich selber durchstehen müssen.
Dennoch war es ein beispielloser Aufbruch in die Lebendigkeit, ein Überschreiten von Tabus und Dogmen, eine Befreiung aus einer lebensfeindlichen Kirchenmoral. Eine vermeintliche Befreiung vom asketischen Eros schlechthin. Die gemeinte Freiheit entartete allerdings nur zu oft und endete in sexuellen Ausschweifungen, welche die Freiheit Lügen strafte. Immer wieder mussten TeilnehmerInnen nach dem Besuch solcher Wochenenden bei einem Therapeuten Zuflucht suchen, weil sie mit den gemachten Erfahrungen nicht umgehen konnten.
Diese kurzsichtigen Tendenzen gingen an der, von mir geleiteten, IAC Stiftung (Integrative Ausbildungsstätte zur Persönlich-keitsentfaltung in Zürich) vorbei. Wohl gab es TeilnehmerInnen, die solche Erfahrungen mitbrachten. Ihre Erfahrungen genügten in der Regel, um andere von der Teilnahme von solchen Kursen abzuhalten. Sexueller Austausch unter den TeilnehmerInnen wurde jedoch toleriert und gehörte stillschweigend zur Strategie, um alt eingefleischte religiöse Tabus zu überwinden. Das gegenseitige Ausprobieren und Naschen in fremden Paradiesgärtchen brachte in der Regel gewinnbringende Erfahrungen. Es gab bei uns keine minderjährigen Teilnehmer. Es gab auch keine Therapieverträge, sondern Weiterbildungsverträge. Der Erwachsene wurde als Erwachsener stets ernst genommen und als solcher behandelt. Allerdings versuchten viele Teilnehmer die Ausbildung als Therapieersatz zu missbrauchen. Ein Problem, das im Stolz des Menschen zu suchen ist, der seine Schwächen nicht eingestehen kann.
Sexualität, Erotik und Liebe waren immer wieder Themen der Seminare. Die Unterdrückung des Eros, durch die Traditionen der christlichen Kirchen als notwendig für das Seelenheil erachtet, brachte Leiden, Qualen und Perversionen ohne Ende. Ausser einem quälenden Gewissen waren und sind noch heute Sadismus und Masochismus an der Tagesordnung, dazu gehören auch seelische Grausamkeit und die Ablehnung des eigenen Körpers, mit der ganzen Folge von Krankheiten. Das Keuschheitsgebot entpuppte sich als Bumerang. Mit einer solchen Hypothek, die jeden Einzelnen trifft, kann es keine Freiheit geben. Ebenso wenig kann damit der Himmel verdient werden.
Obwohl meine Lehrkräfte und ich an der Befreiung von verrosteten Tabus und an der Auflösung von einschränkenden Glaubenssätzen arbeiteten, gab es nie sexuelle Ausschweifungen. Das IAC setzte für die Teilnahme an den Seminaren strenge Voraussetzungen fest. Unsere Arbeit forderte persönliche Verantwortung und eine gute psychische Belastbarkeit. Psychisch Kranke und geschädigte Menschen, die einer klinischen oder psychotherapeutischen Betreuung bedurften, waren nicht zu den Weiterbildungsseminaren zugelassen. Traten psychische Störungen innerhalb der Ausbildung auf, mussten sie ausserhalb des Unterrichtes aufgearbeitet werden. Dafür standen stets Fachkräfte zur Verfügung.
Mit der sexuellen Befreiung hat die “Osho-Schule” mit ihrer Neo-Tantrischer Tendez ihren Namen gemacht. Darüber muss an dieser Stelle nicht viel gesagt werden. Nur eines: Gegenüber dem, was in Oshos Zentrum in Indien im Hinblick auf Befreiung und Neuwerdung des Menschen getan wurde, blieb die westliche Psychotherapie tief in den Kinderschuhen stecken.
An anderer Stelle habe ich bereits erwähnt, dass das Tantra, welches aus Indien, Kaschmir und anderen Orten importiert wurde, vielen Menschen half, eine Weisheit zu finden, in welcher der Geist die Natur nicht bekämpft, sondern mit ihr im Einklang den Weg bis zur höchsten Erkenntnis geht. Wer diese Bewusstseinschulung ernst nimmt, findet mitunter schon auf Erden ein Stückchen Paradies – eine glückhafte Triebbefriedigung.
Tantra, eine Lehre, die empfiehlt im Gegengeschlecht das Göttliche zu verehren, in der Frau die Göttin, im Manne Gott, kann nicht abwegig sein – in der sinnlichen Vereinigung verschmelzen nicht nur die Körper zur Einheit, sondern auch die spirituellen Eigenheiten der beiden Geschlechter und gipfelt in der Vereinigung mit dem Kosmos und der Schönheit. Da kann nur Freiheit entstehen.
Durch meine eigene Geschichte kam ich mit der Weisheit des Tantra früh in Berührung. Obwohl ich als Erwachsenenbildner mit künstlerischen Medien an der Befreiung des Menschen arbeitete, gab es keinen Grund diese Weisheit auszuschliessen. Tantra ist Lebenskunst! Es nährt Leib und Seele mit jener Nahrung, die als Kind nirgends oder zuwenig zu bekommen war.
Ich selber bekam aus dem Tantra viele Impulse, die mich auf meinem Weg befruchteten – viele Impulse für eine Weisheit, die mit den natürlichen Bedürfnissen und Begierden geht, um auf eine kulturell-kreative Ebene zu gelangen. Eine Transformation der Natur ohne die Natur zu vergewaltigen, zu verleugnen oder sie abzulehnen. Das Tantra half mir die geistige Entsprechung meiner Natur zu finden.
Meine Erfahrungen damit haben mir die Lebendigkeit meines Leibes wiedergebracht und mich zusammen mit wenigen, ausgewählten Partnerinnen zu Seinserfahrungen geführt, die tief beglückend waren. Das Erfülltwerden durch diese Liebe war weit heilsamer und befreiender als jegliche patentierte und mit Schutzsiegeln versehene Therapieform. Auf diesem Weg habe ich aber auch erfahren, was es heisst einen ungeliebten Körper in den Armen zu halten, und zu lieben, was von der betreffenden Partnerin selber nicht geliebt wurde. Welche Zumutung! Da war nur Sex auf niedrigster Ebene möglich. Keine glückhafte Triebbefriedigung. Meine Eingeweide machten diese Widerlichkeiten nicht mit. Sich selber lieben heisst doch, zu dem Leib werden, der man ist! und nicht den inneren Mörder sexuell am Mitmenschen ausagieren. Kommt Missbrauch nicht ganz einfach von der Ablehnung des eigenen Leibes, der dadurch zur Liebe unfähig geworden ist?
Und wenn der sexuelle Drang ausgelebt ist? Dann ist er ausgelebt und der Mensch ist frei davon. Tantra ist ein Weg in diese Freiheit. Was bleibt? Freie, ungebundene Schöpferkraft.