Die Unerwünschten

Ein von der Mutter emotional unerwünschtes Kind steht automatisch ausserhalb des Lebens. Es wird zum Zuschauer und Macher.

Unerwünscht! Von den Eltern unerwünscht. Mit einem solchen Grundgefühl durchs Leben zu gehen ist ein Horror und eine geistige Behinderung. Ein solcher Mensch kann hinkommen wo er will, er hat stets das Gefühl, dass er unerwünscht ist, obwohl es niemanden gibt, der ihn zurückweist. Es ist keine gegebene Klassifizierung aus einem gesellschaftlichen Bewusstsein, welches einzelne ausschliesst oder über Nähe und Distanz befindet, sondern ein persönlicher Komplex auf das ganze Leben hin. Das Unerwünscht-Sein spielt in allen Belangen und quillt aus dem autonomen Verhalten des Betroffenen selbst. Es ist Teil seiner Strahlung und wirkt über Sympathie und Antipathie. Könnte er sein Gefühl überwinden und durch ein anderes ersetzen, er wäre ein normaler Mensch. Das ist leider nicht so einfach. Das Unerwünscht-Sein hat sich als vorgeburtliche Prägung für das ganze Leben eingenistet. Vom Gefühl her hat er keinen Massstab für das alltägliche, normale Leben. Er weiss nicht, was das ist. Er kann nicht aus einer Selbstverständlichkeit heraus danach greifen. Auch der religiöse Glaube als Lebenshilfe bleibt ihm verschlossen. Er wird zum Macher. Durch Bildung kann er wohl einen intellektuellen und willentlichen Überbau erarbeiten, das Leben als Kunst gestalten, das Gefühl dazu jedoch fehlt ihm, weil dieses an das Geburtstrauma gebunden ist.

Während der Schwangerschaft und auch die Zeit nach der Geburt lebt das Werdende in der Gefühlseinheit mit der Mutter und erlebt dadurch alle ihre Gefühle als die eigenen. Die Ablehnung der keimenden Frucht während der Schwangerschaft und das Ungewolltsein während der Geburt, welches den Geburtskanal verschliesst und die Presswehen verstärken, prägen den physischen- und den Emotionalkörper fürs ganze Leben.

Die Geburtswehen geben der Mutter sogar die Möglichkeit später einmal dem Kind vorzuwerfen, dass es ihr bei der Geburt sehr Weh getan hat.

Da die Mutter für das Kleinkind die ganze Welt bedeutet, erfährt es später das emotionale Unerwünscht-Sein eben auch von der ganzen Welt. Die ganze Welt will ihn/sie nicht! In der Regel kommt dazu, dass es durch die Prägung auch noch sich selber ablehnt und verachtet.

Ich war in einem Konzert und sass in der Pause etwas Abseits und schaute dem Treiben der Besucher zu. Mehr gelangweilt als interessiert. Unerwartet kam eine ältere Dame auf mich zu und fragte mich etwas verlegen: „Haben Sie auch das Gefühl, dass Sie hier nicht erwünscht sind? Mir geht das so.“ Ich war von dieser Frage etwas überrascht, fasste mich jedoch rasch und musterte die Fragerin aufmerksam und sagte etwas zweideutig: „Trotzdem?!“ Zuerst schaute sie etwas entgeistert bis sie begriff, was ich meinte. Dann entspannte sie sich und lachte: „Genau das ist es. Ich muss alles trotzdem tun. Meistens nach einer Überwindung.“

Wir kamen in ein kurzes Gespräch. Es stellte sich heraus, dass sie mit ihrem Gefühl des Unerwünscht-Seins keinen Lebenspartner gefunden hat und ihr Leben sehr einsam verbringen musste. So werde es wohl auch in ihren letzten Lebensjahren bleiben.

„Vielleicht müssen Sie verstehen lernen, auch wenn Sie von Menschen nicht gewünscht sind, von Gott sind Sie gewollt und das gibt Ihnen alle Rechte.“

Sie nagte an der Unterlippe und flüsterte kaum verständlich: „Ich bin überzeugt, meine Eltern hätten mich umgebracht und entsorgt, wenn mich das Recht nicht geschützt hätte.“

Für eine Konzertpause ging mir das Gespräch etwas zu weit. Ich bat um ihre Telefonnummer. Darauf zog sie sich wieder auf sich selber zurück und schaute, genau wie ich, vom Abseits in die schwatzende Menge, in eine erwünschte Masse, die willkommen konsumiert und die Kassen füllt. Einst von den Eltern erwünschte Lebewesen können stundenlang belangloses Zeug von sich geben, sich zeigen und darstellen, in allen Variationen, sie fühlen sich stets in Ordnung. Sie sind ungebrochen. Unerwünschte sind gebrochen, gehemmt und stehen sich selber im Weg.

Eine Heilung vom Geburtstrauma des Unerwünscht-Seins gibt es nicht. Es bleibt eine psychische Tatsache. Die Einsicht in die damaligen Verhältnisse und Umstände helfen jedoch, sich mit der Mutter und der Geburtssituation zu versöhnen. Es ist das Bewusstsein, das lernt damit umzugehen. Das Recht zu Leben ist nie in Frage gestellt. Es ist und bleibt eine nüchterne Tatsache. Der/die Betroffene muss lediglich, oft mühsam, eine Lebensstrategie aneignen, eine Lebensphilosophie, die hilft, die Situationen des Lebens zu meistern und das unerwünschte Gefühl des Unerwünscht-Seins auszuschalten oder zu überspielen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Dass ein Unerwünschter der Welt gegenüber kritisch (oft auch überkritisch) eingestellt ist, ergibt sich von selbst. Das, was anderen von der Natur aus selbstverständlich ist, muss aus dem Bewusstsein heraus, möglichst lebensnah, produziert und dargestellt werden. Daraus können Kunst und Lebenskunst entstehen.

Ein mir Bekannter wurde zudem Erzieher und Therapeut. So konnte er in der Jugend- und Erwachsenenbildung Leuten beibringen, dass sie die unerwünschten Folgen ihres Freudenlebens besser entsorgen als sie gegen ihren Willen und/oder aus religiösen Zwängen zur Welt bringen. Betroffene unterstützte er nach Abklärungsgesprächen mit Attesten und Zuweisung an entsprechende, anerkannte Fachärzte oder Einweisung in eine Klinik (Spital).

Dass die Strahlung des Unerwünscht-Seins bis zum Lebensende anhält, erfuhr der Bekannte, als er mit seiner Partnerin, mit bald achtzig Jahren in eine *****Senioren-Residenz eintrat. Da wurde ihm das Unerwünscht-Sein von der Mehrzahl der möchte-gerne Fünfsterne-Rentner klar und deutlich kund getan. Die Direktion wurde aufgefordert dafür zu sorgen, dass er unverzüglich wieder gehe. Seine Partnerin hätte bleiben dürfen … Sein etwas spirituell anmutender Nimbus war den Meisten zuwider. Vor allem die Männer mieden ihn. Oft provozierten sie ihn auch, weil sie glaubten, er sei ein Referent Gottes irgend einer realitätsfremden Sekte, der gegen ihren grobstofflichen Genuss etwas einzuwenden hätte. Das war überflüssig, denn er pflegte die Sexualität mit seiner langjährigen Gattin, in tantrischer Manier, fleissig, als glückbringende Energiequelle. Für beide ein kostenloser Gesund- und Jungbrunnen, was sie durch ihr strahlendes Aussehen bekundeten. Beneidenswert!

Die Direktion der Seniorenresidenz stand hinter ihnen. Der Betagte ging mit seiner Partnerin trotzdem nach wenigen Monaten. Den Statusverlust, den sie durch ihr Bleiben hätten eingehen müssen, war zu gross. Um mit den meisten Bewohnern reden zu können, hätten sie in Sprache und Inhalt einen Verblödung hinnehmen müssen. Die herrschende Esskultur hielt sich anspruchslos im unteren Bereich des Geniess- und Hörbaren.

Als Therapeut habe ich Unerwünschten stets dasselbe gefragt: „Weshalb hast du dir denn ausgerechnet diese Eltern ausgewählt?“ Ich brauchte dafür eine anthroposophische Vorgabe, die besagt, dass die Seele vorgeburtlich die Eltern aussucht, damit sie im kommenden Leben ganz bestimmte Erfahrungen machen und reifen kann. Natürlich stiess ich mit dieser Frage meist auf heftigen Widerstand. Immer wurde nach Beweisen verlangt. Meine Antwort war stets dieselbe: „Es geht nicht um Beweise und es muss nichts bewiesen werden. Die Frage lautet, wie würde dein Leben aussehen, wenn dem so wäre. Es ist ganz einfach eine mentale Spielerei, eine Möglichkeit. Such dir eine Antwort: Weshalb hast du ausgerechnet dieses Paar als deine Eltern ausgewählt? Die Antwort kann ausfallen wie sie will, sie bringt dir neue Perspektiven, eine Bewusstseinserweiterung. Was daraus wird, wirst immer nur du alleine entscheiden. Es kann der Beginn einer positiven, philosophischen Lebenshaltung sein. Jede Philosophie beginnt mit einer These.“

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