Der Ruf aus dem Nichts
Gespräch mit einem Seinserfahrenen.
Der Mann, der mir gegenüber sass, hatte ein inniges Strahlen, das von einer anderen Welt zeugte. Er wirkte gelassen und redete mit ruhiger Stimme. Ich kannte ihn schon seit vielen Jahren. Hin und wieder kamen wir zusammen – er aus fernen Landen, überall und nirgends zu Hause, ein Künstler und Globetrotter – ich, bereits betagt, aber immer noch vital und unternehmensfreudig. Ich hatte meinen Beruf als Erwachsenen-bildner bereits aufgegeben und lebe in südlichen Gefilden, im ewigen Frühling der Kanarischen Inseln.
Eigentlich kannte ich seine Geschichte. Wir trafen uns vor Jahren an einem Kongress für Menschenrechte, ungefähr zehn Jahre nach seiner Transpersonalen Erfahrung und nachdem er den Weg zu seinem Beruf gefunden hatte. Ich bot ihm den geeigneten Gesprächspartner, der auf ihn eingehen und ihm zuhören konnte. Zudem hörte ich ihn gerne reden und forderte ihn bewusst immer wieder auf, Details seiner Geschichte zu wiederholen und zu vertiefen. Das Reflektieren der eigenen Biografie schafft stets neue Einsichten und Perspektiven. Dadurch können weitere Ausdrucksweisen entstehen, Variationen zum gleichen Thema. Aus diesem Grunde und natürlich auch aus meiner Wissbegierde, forderte ich ihn heute wieder zum Reden auf. Abgesehen davon, war es für mich auch interessant, mich in seine Welt einzufühlen. Er war „angeschlossen“. Für spürige Menschen ist er ein Tor zur Transzendenz. Durch ihn kam ich in Fühlung mit dem Sein. Eine Quelle für Wohlgefühle.
Wir sassen auf der Terrasse an der Frühlingssonne, mit Blick über das Tal und auf den Atlantik – bei einem Glas Wein und genossen die Gelassenheit unseres Daseins. Auf meine Frage nach seinem Lebenssinn und woher er die Kraft nehme, genommen habe, um sich zu verwirklichen, schaute er mich etwas erstaunt an und meinte, dass ich das eigentlich schon längst wissen müsste.
„Natürlich weiss ich das,“ erwiderte ich, „in groben Zügen. Wir haben oft darüber gesprochen, aber noch nie über die Herkunft deiner Berufung und wie du damit umgegangen bist. Da möchte ich gerne etwas mehr von dir hören.“
Er verzog sein Gesicht zu einer Schmerz zeigenden Grimasse, als ob ihm das Thema zuwider wäre. Aber er begann trotzdem: „Alles ist so weit entfernt und trotzdem ist es da, als ob es gestern gewesen wäre. Die Vergangenheit ist immer gegenwärtig, ob du willst oder nicht. Es ist für mich nicht leicht, mich daran zu erinnern, das Ereignis ist nicht nur voller Glückseligkeit, sondern auch an Leiden und Qualen gebunden. Es war quasi ein Ruf aus dem Nichts, eingebunden in meiner Seins-Erfahrung, die du zur Genüge kennst. Ich war naive, unwissend, voller infantiler Glaubenssätze, die mich paradoxerweise zu diesem Ereignis führten. Ich wollte sterben, meinem verpfuschten Leben ein Ende bereiten. Der Start ins Leben war völlig misslungen. Die Gründe kennst du. Einer dieser Glaubenssätze hiess: Wer Gott sieht, stirbt! Also wollte ich Gott sehen. Ich dachte, durch seine Hand zu sterben wäre gerechter, als mir selber Gewalt antun. Ich wollte ihn zum Mörder machen. Zudem hätte mir das auch die Gelegenheit geboten, mit diesem Herrn einige Worte zu reden, über sein blamables Versagen in Sachen Kinderquälerei, Güte, Allmacht und Gerechtigkeit. Ich konnte mein kindisches Gottesbild leicht in meine Vorstellung nehmen. Ich konnte ihn also sehen und beschimpfen, aber es geschah nichts. Es gab noch einen anderen Glaubenssatz: Wer Gott lästert, fährt zur Hölle. Also lästerte ich Gott jeden Tag, bei jeder Möglichkeit. Nichts geschah. Dieser Gott meiner kindischen Einbildung besass keine Macht. Er war impotent. – Um ehrlich zu sein, ich wusste gar nicht, was Gott ist. Ein Sammelsurium von blöden Sprüchen, infantilen Glaubenssätzen und einem senilen Greisengesicht mit Drohfinger. Meine Erzeuger und meine Erzieher, samt Pastor, waren nicht in der Lage intelligente Fakten zur christlichen Glaubenslehre zu vermitteln.
Das Meisterstück meiner Intuition war jedoch die Entdeckung, dass ich durch die Konzentration auf den Atem, mein tage- oft auch nächtelang quälendes zirkuläres Denken unterbrechen konnte. So kam ich in den leeren Raum zwischen den Gedanken und wie ich heute weiss, in den Kontakt mit dem reinen Bewusstsein. Das war wohl die Voraussetzung für den Quantensprung.
Nach einigen Monaten des Haderns und Provozierens, ungewollt und überraschend, geschah die Erleuchtung! Es war keine Stimme, die mich weckte und sagte, was ich zu tun habe. Es waren Licht und Gefühlslagen, Stimmungen, die mich quasi besetzten und mir eine Stimme gaben. Da ich jedoch in meiner Abgeschiedenheit keine Möglichkeit besass zu reden, blieben es Gefühle. Gefühle der Glückseligkeit und der Erlösung, eine Befreiung von jeglicher Schuld. Das schuldbeladene Ich war Produkt meiner Erziehung mit den Folgerungen eines bildungslos Unwissenden. Da haderte ich mit Gott und seinen Knechten aus dem christlichen Glaubensbereich und plötzlich stand ich inmitten einem glückbringenden Nichts.
Zudem spürte ich eine Gnadengabe, die mir jegliche Freiheit gewährte. Ich empfand sie als ein glückseliges Genschenk. Sie begleitete mich mein ganzes Leben, bis heute. Die damit verbundene Strahlung gedieh mir jedoch zur Pein. Sie wirkte auf Mitmenschen, die später spontan in meine Nähe kamen, meist abweisend, sogar abstossend. Viele provozierte es zu Grobheiten, Rempeleien, Beleidigungen. Nur zusammen mit meiner Berufung bekam das Ganze einen Sinn: Anderen Menschen auf ihrem Weg behilflich zu sein, damit ihnen das gleiche Erlebnis zuteil wird wie mir: Die Befreiung aus der inneren Gefangenheit.
Ich weiss nicht ob die Berufung mit der Gnadengabe verbunden war. Jedenfalls schenkte ich diesem Ruf, der einfach da war, quasi aus dem Nichts, längere Zeit keine Beachtung. Das Einordnen der mich verwirrenden Ereignisse hatte Vorrang.
Mit meinem Ich starb auch das infantile Gottesbild und damit auch der Hass, den ich auf diesen Gott und mich selbst hatte. Ich erfuhr Versöhnung und Freiheit und wurde einer enormen schöpferischen Energie teilhaftig. Durch meine Bereitschaft meinem Leben ein Ende zu bereiten, mein leidendes, beschränktes Ich krepieren zu lassen, fand ich den Zugang, einen Zugang, den ich nie wollte oder erstrebte. Die Einzelheiten zu meiner Geschichte sind dir ja bekannt und ich muss sie hier nicht wiederholen.
Das Ich starb und im Bewusstsein, das mich empfing, spürte ich Unsterblichkeit und ewige Jugend. Durch dieses Ereignis bin ich sicherlich religiös geworden, bestimmt jedoch kein christlicher Kirchengänger, auch kein Buddhist oder Muslim. Ich genoss die entstandene Freiheit und daraus wuchs meine Botschaft. Ich wurde ein Botschafter der Freiheit. Die Kraft dazu beziehe ich durch die meditative Verbindung mit der unerschöpflich schöpferischen Energie, was zugleich eine Einheit mit dem Kosmos bedeutet.“
Nach einer Weile des Schweigens sagte ich: „Tatsächlich eine vielschichtige Geschichte. Ich meine, die Leute deiner Umgebung war damals gar nicht in der Lage ein Talent wie deines zu erkennen, geschweige denn zu fördern. Da war weltweite Krise, und dann kam noch der Zweite Weltkrieg mit all seinen Behinderungen. Das Geld fehlte überall, nicht nur im Bildungswesen. Jeder einzelne hatte mit sich selbst genug zu tun. Deine Begabung war für deine Erzieher bestimmt eine Herausforderung, sogar eine Überforderung. So hast du statt Förderung, Unterdrückung erfahren. Da haben dich unfähige Leute zum Sündenbock gemacht und nun solltest du ihnen auf der Suche nach dem inner Weg helfen. Es ist mir bis heute nicht klar wie du diese Klippe umschifft hast. Du bist ja kein kritikloser Anpasser und hinterfragst auch dein Bewusstsein und dich selbst.“
„In der Tat,“ erwiderte er lächelnd, „da ich alleine war, wusste ich nicht, was mit mir geschah. Ich war auf mich alleine angewiesen. Ich wusste nicht, dass bei einer Verschmelzung sich das Du auflöst und somit kein Gegenüber mehr besteht. So fühlte ich mich über Tage hinweg nicht nur Gott-Eins, sondern als Gott selbst. Eine horrende Zumutung. Da gab es für mich nur ein konsequentes Nein, sonst wäre ich dem Gottes-Wahn verfallen. Aber später, durch dieses Nein hindurch, sickerte immer wieder ein für mich neues, ein absolutes Gewissen, das die Erfüllung des Auftrages forderte. Immer und immer wieder. Es liess sich nicht verdrängen. Ich spürte immer mehr, ich musste mich fügen, wenn ich nicht einen qualvollen, frühen Tod, durch irgend eine schwere Krankheit oder einen Unfall erleiden wollte. Es war nicht gerade das, was ich mir unter Freiheit vorstellte. Es war ein harziger Lernprozess, bis ich verstand, dass die Erfüllung dieser Aufgabe echte Freiheit bedeutete und mir Erfüllung brachte. Ein erfülltes Leben!
Welchen Weg ich zu gehen hatte, erfuhr ich erneut durch eine Seins-Erfahrung. Ich sass meditierend im Garten meines Bruders. Als ich die Augen öffnete, sah ich eine von Schönheit verklärte Welt. Wo ich hinschaute, so weit meine Augen reichten, eine mit goldener Firnis überzogene Landschaft. Ich war überwältigt und wusste nun genau, was zu tun war. Ich wurde Künstler und ging den Weg der Schönheit. Dieser Weg unterscheidet sich ganz wesentlich vom Weg der Wahrheit und Moral und jenem des willentlich Guten Tuns. Ich habe die Erfahrung gemacht: Leiden beginnt sobald Moral in die Welt der Gefühle eindringt. Dann beginnt die Leidenschaft. Die Schönheit wird zerstört.
Wahrheit – was ist Wahrheit und was ist Lüge? Wenn es um die letzten Dinge geht, gibt es nur das Nichtwissen oder der Glaube. Ich wurde über das Gewissen gelenkt. Entsprach ich, ging es mir gut, andernfalls wurde ich krank. Für mich war bald klar, ich musste aus dem Gewissen echtes Wissen machen. Daraus entstand für mich eine erlösende Gewissheit. Gewissheit steht vor der Wahrheit. Aus der Gewissheit heraus zu wirken ist wunderbar. In allem, was ich tue, im Reden und im Handeln, schwingt die Gewissheit mit. Da gibt es keine Zweifel, weder Böses noch Gutes, nur Klarheit …
So wurde ich Künstler und brachte auf diesem Weg die Botschaft der Freiheit unter die Leute. Wer mich hören und sehen wollte, kam und begriff sehr bald, was ich zu offenbaren hatte. Ob sie es nachvollziehen konnten? Das ist eine offene Frage. Vielen stand schlicht und einfach die gesellschaftliche Ordnung im Wege. Die Pflicht und der Broterwerb standen im Vordergrund und verwehrten den Zugang zum reinen Bewusstsein. Die Feigheit des Einzelnen tat das Übrige. Den Weg konnte ich weisen, gehen musste ihn jeder selber.“
„Es gibt für mich in deiner Geschichte noch eine Lücke. Dein Ich starb. Wie kannst du dich da noch daran erinnern, was damals geschah? War das so etwas wie eine neue Prägung?“
Er reagierte erheitert auf meine Frage. Er stand auf, ging einige Schritte hin und zurück, blieb vor mir stehen und sagte lachend: „Du kannst das Fragen offensichtlich nicht lassen. Deine Neugierde, deine Wissbegierde ist unersättlich. Du bist mit meinen Antworten erst zufrieden, wenn sie klar und verständlich sind. Das ist gut für mich. Du hast mich schliesslich gelernt so zu reden, dass ich verstanden werde. Verstanden werden kommt vor Recht haben wollen. Das ist gut so.“
Er setzte sich wieder und ging auf meine Frage ein: „Das Ich starb, ein Ich, das weit von dem entfernt war, was ich wirklich in meinem Innersten war und heute bin. In mir war ein Beobachter, der, soweit ich mich zu erinnern vermag, stets über allem stand und alles mitbekam, was mit mir geschah. Auch während dieser transzendenten Erfahrung. Es geschah, der Beobachter sah es und hielt es im Bilde. Aber ich konnte es nur mühsam einordnen. Das dauerte einige Zeit.
Ich nahm schon als kleiner Junge einen Beobachter in mir wahr. Er war überall dabei, immer bei mir und sammelte alle Ereignisse. Es ging nichts verloren und es ging nichts vergessen. Die Nachfragen bei meinen Erziehern blieben unbeantwortet, oder dann hiess es, das sei eben das Auge Gottes, das alles sieht. Die Erklärungen, die dazu erfolgten, regten wohl meine Fantasie an, ergaben jedoch keinen Sinn.
Durch die Seins-Erfahrung wurde dieser Beobachter schlicht und einfach zum Ich. Zusammen mit dem reinen Bewusstsein entstand meine neue Existenz, die sich mehr und mehr durchsetzte. Es vollzog sich tatsächlich eine Neuprägung.“
„Ich, ich, ich! Ich nehme an, du sprichst von zweierlei Ichs. Einerseits sprichst du von einem Ich, das starb, anderseits sprichst du von deiner Erfahrung in der Ichform.“
„Genau. Das primitive, vom Bockmist der Erzieher geprägte Ego starb. Daran ist nur eine schwache Erinnerung geblieben. Es war ganz nach aussen und auf die Befriedigung primärer Bedürfnisse gerichtet. Mehr darüber zu sagen, würde jetzt zu weit führen und ginge an deiner Frage vorbei. Mit dem Tode des Egos stand unmittelbar das Bewusstsein im Raum. Nicht irgend ein auf Objekte bezogenes Bewusstsein – es war reines Bewusstsein. Es ist für mich immer noch sehr schwierig diese Augenblicke zu erfassen und ihnen Worte zu geben. Es war lange Zeit ein ichloser Zustand. Erst mit dem Verstehen, was mit mir überhaupt geschah, bildete sich ein neues Ego, das beide Ebenen einbezieht, die innere und äussere Welt. Das zuerst geschenkte gefühlsmässige Ich-Bin ist darin enthalten und ist immer noch wirksam. Es ist im Bewusstsein enthalten. Um zu bestehen musste ich mir ein vom Intellekt geprägtes neues Ich bilden.
Ich weiss nur eines, als ich mich entschloss wieder unter die Menschen zu gehen, war das ein Horror. Ohne gebildetes Welt-Ich, das mich hätte schützen können, war ich allen Einflüssen ausgeliefert. Aber es gab keine andere Wahl. Damit ich meinen Auftrag ausführen konnte, musste ich unter die Leute gehen.
Ich lernte rasch. Ich bildete ein wissenschaftliches Ich, das ich zur Durchsetzung in der äusseren Welt brauchte. Ein Welt-Ich. Mein ganzes Leben wurde zur Lebenskunst. Dazu musste ich auch meinen Körper erspüren, praktisch jede Bewegung bewusst machen. Es wurde zu einem Abenteuer ohnegleichen. Wenn ich Bewusstsein bin, kann ich den Körper nicht sein, aber als Bewusstsein brauche ich einen Leib, durch den ich sichtbar werden und mich manifestieren kann. Also sorge ich dafür, dass mein Leib gesund wird, in dem ich mich wohl fühlen kann. So wird er Ausdruck meines Bewusstseins. Sinnbildlich ist mein Leib der Tempel meines Bewusstseins. Das war ein sehr langer Prozess, denn er war durch die Erziehung und den frühkindlichen Prägungen besetzt, mit Automatismen, die an Blödheit grenzten. Zum Schluss kann ich sagen, mein Leib in dem ich wohne ist ein Tempel der Lebensfreuden. Er wird eines Tages sterben, das Bewusstsein wird jedoch bleiben und eine neue Verkörperung finden.
Aber stets: Alles, was ich für die Erfüllung der Aufgabe brauchte, floss mir mühelos zu. In diesem Fluss zu sein und zu bleiben, das war alles. Hingabe und Interesse, Verstehen und eine Sprache, welche den subtilen Gefühlen Ausdruck verleihen kann.“
– Noch eine Frage zur Sexualität. Sicherlich warst du vor der Transpersonalen Erfahrung enthaltsam und hattest keine sexuellen Kontakte. Du lebtest zurückgezogen, in Askese. Wie war denn das? Du als blonder Naturbursche hattest doch sicherlich eine starke Veranlagung. Der Verzicht musste sicherlich qualvoll gewesen sein.
„Ich war viel zu wütend auf mein Schicksal, auf die Welt und Gott. Mein Hass auf das Leben liess keine andere Gefühle zu. Die Energie floss in meine Todessehnsucht und in mein Trachten nach Abrechnung. Im Untergrund lebte die primäre Funktion der Arterhaltung jedoch weiter. Regelmässig, in Intervallen von gut drei Wochen kam eine automatische Entleerung, verbunden mit absurden Träumen, denen ich keine Bedeutung beimass. Meine Natur war mir gnädig. Es gab keine Ekstasen mit Engelstänzen, höchsten einen Beischlaf mit einer Traumfrau. Vom Samen besudelt wachte ich jeweils aus. Das war auch alles. Die Sexualität war abgespalten und liess mich weitgehend in Ruhe. Erst später gab ich ihr eine Bedeutung, nach der Seins-Erfahrung und deren Folgen.
Dieses Thema habe ich öfter variiert. Ich wollte hinter das Geheimnis meiner Strahlung kommen. Als ich nach der Seins-Erfahrung ohne gefestigtes Welt-Ich untere die Leute ging, war ich allen Einflüssen ausgeliefert. Ich nahm bei den andern jede Gefühlsregung wahr und erlebte alles als eigenes Ich, wie ein Kleinkind. Ich konnte nicht differenzieren. In der Not floh ich in ein öffentliches WC. Alle Gefühle verschwanden und ich stand wieder in der vertrauten Leere. Ich ging hinaus. Kaum wieder in Kontakt mit Anderen begann wieder das Gefühlschaos. Dominant war die Angst der Leute. Ich begann zu üben. WC rein – WC raus, WC rein – WC raus, WC rein – WC raus. Bald konnte ich mein und dein unterscheiden. Dieses selbstlose Wahrnehmen von Gefühlslagen, wurde später zu meiner Arbeitstechnik bei der Arbeit am Mitmenschen.
Aber bei deiner Frage geht es um meine Sexualität. Dieses Thema liegt auf einer anderen Ebene, wurde jedoch von meiner feinstofflichen Wahrnehmung massgebend beeinflusst. Meine Strahlung wirkte auf Leute im Allgemeinen abschreckend, auf Männer mehr als auf Frauen. Es war für mich sehr unangenehm, oft auch lästig. Ich überlegte und hinterfragte meinen Prozess und kam zum Ergebnis, dass die Strahlung auf Grund der ungelebten Sexualität strahlte. Die sexuelle Energie hat sich spiritualisiert. So entschloss ich mich, das Ergebnis meiner Überlegungen praktisch zu überprüfen. Auf der Suche nach einer passenden Sexpartnerin kam mir meine, auf Selbstlosigkeit beruhende, Wahrnehmung in die Quere. Was mir von Frauen entgegenkam, schlug mich ohne lange Besinnung in die Flucht. Ich musste zuerst mein Ich stärken und das ging gut ein Jahr. Dann reiste ich nach Paris und erlebte dort, nach Jahren der Enthaltsamkeit, einen angenehmen Sex mit erotischem Charme. Eine Befreiung.
Ich hatte richtig vermutet. Nach den ersten Kontakten schwand der heilige Schein – was blieb, war die Strahlung eines Adonis, eines Gottes der Schönheit, welche die Frauen in meine Arme trieb. Aber ich verfiel auch diesem Wahn nicht, obwohl dieses Spiel mit Frauen meiner Natur voll und ganz entsprochen hätte. Geraume Zeit betätigte ich mich dann auch fleissig als Blütenstecher. Eines war klar: ich wollte meine Sexualität leben, Erleuchtung hin, Erleuchtung her. Da kam mir die Lehre des Tantrischen Sex sehr gelegen. Ich suchte eine Partnerin, die fähig war, diesen Weg mit mir zu gehen. Nach etlichem Suchen und reichlichem ausprobieren wurde ich fündig: Eine junge, liebesfähige Frau, mit der ich den Weg gehen konnte. Das Spiel gelang. Wir pflegten einen meditativen Sex, der zur innigen Liebe wurde und uns beide immer wieder in die Tiefe zu Seins-Erfahrungen führte. Oft war es pure Glückseligkeit.“
– Gewissensbisse gab es dabei nie?
– Unsinnige Gebote darüber gibt es nur in gewissen christlichen Kirchen. Natürlich habe ich mich damit auseinandergesetzt. Aber ich experimentierte. Hätte ich durch meine erotischen Praktiken den Anschluss an die schöpferische Energie verloren, hätte ich bestimmt damit sofort aufgehört. Aber das Gegenteil passierte. Die Energie verstärkte sich. Die körperliche Liebe wurde intensiver und die schöpferischen Impulse verstärkten sich. Ich fand auch ein religiöses Vorbild mit dem ich mich auseinander setzte: das persönliche Leben des Propheten und Religionsstifters Mohammed. Er hat den energetischen Ausgleich über die Frauen gelebt und ein fleissiges Sexualleben betrieben. Ich weiss, was das heisst: Die totale Entspannung und gleichzeitig das Aufgeladen-Werden durch die schöpferische Energie. Eine Gesund- und Kraft-Quelle ohnegleichen. Es ist offenbar ein grosser Unterschied ob ich als Sucher von unten komme und nach Erlösung strebe, oder ob ich von oben, vom Bewusstsein komme und meinen Körper als Tempel der Lebensfreuden geniesse. Da bin ich wohl ein göttlicher Kostgänger, der benutzt, was ihm die Schöpfung zur Verfügung stellte.“
– Er schmunzelte vergnügt über seine geistreiche Spitzfindigkeit. Die Ironie war spürbar. Er konnte seine vieldeutigen Anspielungen nicht lassen und streute sie bei jeder Gelegenheit ein, so, als ob er der persönliche Gesandte Gottes wäre. Ich vermutete, dass sein einstiges Erlebnis während der Transpersonalen Erfahrung, als er sich in der Einheit mit Gott befand, sich sogar punktuell als Gott selbst wähnte, die Ursache für seine spöttischen Einflechtungen war. Einst sagte er zu mir, er hätte ein literarisches Thema, Gott selbst sei als Mensch auf die Erde gekommen, um persönlich zu erfahren, was seine Ebenbilder aus seiner Schöpfung gemacht haben. Eine Rolle, die direkt auf ihn zugeschnitten wäre. Da könnte er die Identifikation mit diesem Phänomen total ausleben. Er wolle jedoch auf ein solches Werk verzichten, weil es allzu persönlich ausfallen könnte. Immerhin, er spielte mit diesem Thema und daraus seine stets wiederkehrenden Witze. Ich nehme jedoch nicht an, dass dieser Wahn bei ihm zum Durchbruch kommen kann – ausser die Umnachtung nimmt ihn gefangen und er verliert Verstand und Bewusstsein.