Trauer muss Elektra tragen*
Liebe Ara
du leidest an einer psychischen Behinderung, die dich nicht Frau sein lässt und dir Schwierigkeiten in Männerbeziehungen bereitet. Du beschuldigst deswegen den Vater. Mit Unrecht. Denn wer ist schon verantwortlich dafür, wenn ein kleines Mädchen zwischen drei bis fünf Jahren seinen Vater liebt, mit ihm schlafen möchte und zur Mutter in Konkurrenz geht? Wie soll der Vater damit umgehen, der von solchen Dingen meist keine Ahnung hat? Genau so die Mutter. Beiden fehlt nur allzu oft die nötige Bildung, denn solches Wissen wird in der Schule nicht vermittelt. Der Vater sieht und geniesst meistens die liebevolle Zuneigung ohne darauf sexuell zu reagieren. Die Mutter nimmt sie als Konkurrenz war, reagiert oft auf die schwierig erscheinende Tochter, statt mit Verständnis, mit Eifersucht und Zurückweisung. Also das Gegenteil vom dem, was die Tochter für ihre weibliche Identifikation braucht. Aus diesem Zustand heraus entsteht dann jener Komplex, der die Frau unfähig macht, eine gesunde Beziehung mit einem Mann einzugehen.
Es gibt nur eine Möglichkeit der Heilung: Du übernimmst dafür die Verantwortung. Wie immer braucht es Einsicht und Versöhnung. Du suchst dir eine weibliche Identifikationsfigur, die Frau und zugleich mütterlich ist, eine die dich sanft berührt und mit der du auch sprechen kannst. Vielleicht eine Atemtherapeutin. Schuldzuweisungen bringen nichts, aber auch gar nichts.
C.G. Jung, einst Schüler von Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, erforschte diesen Komplex und benannte ihn nach der altgriechischen Sage der Königstochter Elektra. Diese erzählt, dass Elektras Vater, der König Agamemnon, während seiner Teilnahme am Trojanischen Krieg von seiner Frau Klytämnestra betrogen wurde. Als er heimkehrte, wurde er von ihrem Liebhaber Ägisth ermordet. Elektra stiftet ihren Bruder Orest an, die Mutter und den Stiefvater, den neuen König, zu töten, um den Vater zu rächen und die Mutter zu strafen. (Der gleiche Vorgang bei Knaben auf die Mutter hin wird in der Psychologie Oedipus-Komplex genannt).
Mädchen entwickeln im zarten Alter zwischen drei und fünf Jahren eine starke Liebe zu ihrem Vater und wünschen mit ihm zu schlafen. Gegen die Mutter entsteht ein Hass mit dem Wunsch sie zu töten. Eifersüchtig geht sie in Konkurrenz und rivalisiert mit ihr. Ist die Mutter nicht fähig auf die Tochter liebend einzugehen, so hat das junge Wesen keine Möglichkeit sich mit der Mutter zu identifizieren und kann sich nicht zur Frau entwickeln. Dadurch fehlt auch die Anerkennung, die sie als Heranwachsende so dringend braucht. Die liebevolle Anerkennung durch die Mutter in diesem Prozess ist die einzig mögliche Lösung. Solange die Mutter dazu nicht fähig ist, ist jede Liebesmüh vergebens. Die heranwachsende Tochter scheitert in der Liebe. Die unerfüllte Liebe zum Vater kann in Hass umkippen.
In meiner aktiven Zeit als Erzieher und Therapeut begegnete ich dieser Konstellation jedes Wochenende. Als Seminarleiter stand ich bei vielen Teilnehmerinnen in der Vaterrolle und war ihren kindlichen Projektionen ausgesetzt. Viele wollten mit dem Vater schlafen. Sie hofften, dadurch von ihren Leiden befreit zu werden und sich selber zu finden. Das war allerdings der richtige Weg nicht. In den meisten Fällen fand sich jedoch eine Lösung. Neben dem üblichen therapeutischen Bewusstwerdungs-Prozess empfahl ich den Betreffenden eine Atemtherapeutin, die darüber Bescheid wusste und alle Qualitäten einer bedingungslos liebenden Mutter aufwies. Das war die Lösung. Das Schlafen mit einem väterlichen Partner musste in der Regel fehlschlagen. Zur Heilung braucht es eine reife Frau, die als Integrationsfigur dient.
Wenn du über dieses Thema noch mehr wissen möchtest, dann schreibe mir. Ab
nächster Woche bin ich wieder auf Reisen. Aber über e-Mail bin ich überall zu erreichen.
Ich wünsche dir Heilung und einen lichtvollen Weg.
*Trauer muss Elektra tragen: Ein Schauspiel von Eugene O’Neill, das dieses Thema in moderner Form behandelt.