Wenn die Liebe durch den Magen geht
Ersatzgefühle – Maschen
„Dort wo sich das Leben erfüllt herrscht Freude und das ist das von der Schöpfung gegebene und gewollte Grundgefühl“. Diese Einsicht stammt von Elisabeth Kübler-Ross.* Das ist auch meine Überzeugung. Ich gab sie als Gründer, Stifter und langjähriger Leiter der IAC-Stiftung Zürich, aus eigener Erkenntnis, an meine Schüler weiter. Jedes andere Gefühl ist eine Störung, oder gar ein Ersatzgefühl.
Trauer, Wut, Angst, Hunger sind Störungen. Nach der Behebung kehrt die Lebensfreude von selbst wieder zurück. Trauer entsteht bei einem Verlust, beim Abschiednehmen, Loslassen. Ist der Verlust verarbeitet kehrt die Lebensfreude wieder ein. Wut meldet sich bei Frust und Unterdrückung mit dem Drang nach Veränderung. Angst entsteht bei einer Bedrohung. Hunger! Der Körper verlangt nach Nahrung und meldet sich durch ein Hungergefühl. Gut genährt ist der Mensch guter Dinge. Wenn dabei jedoch noch ein psychischer Hunger mitspielt, kann das Völlegefühl zu einem Ersatzgefühl werden, ja, zu einem Ersatz für die Liebe.
Eine persönliche Erfahrung
Meine Frau und ich lebten einige Jahre in Thailand. Es war selbstverständlich, dass wir Anschluss suchten. Es ging auch nicht lange und wir wurden von einer sich regelmässig treffenden Gruppe eingeladen. Rentner im besten Alter, vital voller Bresten und Leiden. Jeder konnte darüber klagen und suchte sich geduldige Zuhörer. Wir gingen gemeinsam zum Abendessen. Hier galt die Regelung: Jeder konnte bestellen und essen, was er wollte. Die Gesamtrechnung wurde durch die Anzahl der Teilnehmer geteilt, so dass jeder gleichviel zu bezahlen hatte. Eine wunderbare Regelung, wie wir schon bei der Bestellung erfuhren. Meine Frau und ich bestellten, wie üblich, ein leichtes Essen. Da wir unsere Liebe lebten, gab es keinen psychischen Hunger, der beim Essen mitmischte. Was hingegen die Gruppenmitglieder bestellten und tatsächlich auch verschlangen – der langen Rede kurzer Sinn: Unser Essen kostete 600.– Baht (15.- €). Wir bezahlten jedoch auf Grund der Gleichberechtigung 3.200.– Baht oder umgerechnet € 80.–. Eine der beteiligten Frauen, welche das Missverhältnis wahrnahm, kam zu uns und entschuldigte sich und meinte: „Unsere Männer erleben halt das Völlegefühl als Liebe. Da können sie nicht anders, als sich immer wieder vollfressen. Bei euch sieht man jedoch sofort, dass ihr die Liebe wirklich lebt. Beneidenswert.“ Einer der Männer meinte hingegen, wir wären in der Gruppe wirklich herzlich willkommen.
Für eine junge Frau wurde die Ehe zur Katastrophe. Ihr gut aussehender Auserwählter entpuppte sich als wenig intelligenter Chaot, der wohl sexuell tüchtig war, jedoch von Liebe keine Ahnung hatte. Schon nach vier Jahren hatte sie genug davon. Am liebsten wäre sie davon gelaufen. Aber es waren bereits drei Kinder da, die sie nicht im Stich lassen wollte. Sie fühlte sich verpflichtet. Pflicht ist ein schäbiger Ersatz für die Mutterliebe. – Da ihre Liebe abgestorben war, wurde sie zur kalten Materialistin. Statt liebende Zuwendung begann sie ihre Kinder zu mästen. Der sonntägliche Kartoffelstock mit einem saftigen Kaninchenbraten wurde für die Kinder zum höchsten Liebesbeweis. Satt, vollgefressen kamen sie in ein Völlegefühl, das sie für Liebe hielten.
Aus den kindlichen Erfahrungen heraus, glaubte einer der Söhne, als junger Mann, seine Freundin mit gutem Essen zu verwöhnen, um anschliessend mit ihr ins Bett zu steigen. Aber diese wollte etwas mehr als ein voller Magen und Sex, sie wollte kuschelnde Zärtlichkeiten, erotische Streicheleinheiten, ein Ineinander-Verschmelzen. All dies konnte er ihr nicht bieten. Er glaubte gutes Essen und Sex sei das, was die Liebe ausmacht, um eine Frau zu befriedigen, um eine Familie zu gründen und Kinder zu zeugen.
Das gute Essen, der Kartoffelstock am Sonntag, war für ihn der Beweis der mütterlichen Liebe. Noch mit sechzig Jahren wollte er jeden Sonntag seinen Kartoffelbrei mit Braten an einer guten Sauce. Mit dem Hunger nahm aber auch die Mutter Gestalt an und schöpfte ihm reichlich. Die Frau, welche dieses Spiel mitspielte, war von bescheidener Intelligenz. Sie sagte im Bekanntenkreis oft: „Lieber den als keinen!“ Sie war eine gute Hausfrau und willige Sexpartnerin, mit einer chronischen Angst nicht zu genügen. Sie stand stets unter Stress. Sein, an die Mutter gebundenes Unterbewusstsein, verglich sie auch stets mit seiner Mutter. Und wenn es um das Essen ging, vermochte sie ihm auch nie zu genügen. Um das, was er für Liebe hielt, zu feiern, lud er ab und zu eine andere Frau zum guten Essen mit anschliessendem Bettbesuch ein. Kostenpflichtig.
Es muss jedoch nicht immer das Essen sein, das zu einem Ersatz für die Liebe und Zuwendung wird.
Eine Mutter hatte keine Zeit für die Kinder. Der Vater war ohne Arbeit. Das Geld war sehr knapp. Die Mutter pflegte einen grossen Garten, damit die Kinder genügend zu Essen bekamen – um sie „über die Runde zu bringen“,wie sie oft sagte. Sie hatte sehr viel Arbeit. Wenn ein Kind tagsüber etwas von ihr wollte, hiess es: „Ich habe jetzt keine Zeit!“ Abends hiess es dann: „Ich bin müde und brauche jetzt Ruhe“, oder: „Morgen habe ich einen strengen Tag und muss mich jetzt ausruhen.“ So gab es von der Mutter keine Zuwendung, keine Streicheleinheiten – nur Abweisung. Eines der Kinder erkrankte. Und siehe, jetzt hatte die Mutter plötzlich Zeit und das Kind bekam Zuwendung wie noch nie in seinem Leben. Eine Entdeckung für den Kleinen. „Ich muss krank sein, damit die Mutter Zeit für mich hat“. Fortan wurde er häufig krank. Er lernte das Simulieren und holte sich auf diesem Weg die fürsorgliche Zuwendung der Mutter. Daraus wurde eine Strategie für sein ganzes Leben. Die Lebensfreude blieb ihm fremd. Er nahm sich eine hilflose Helferin zur Frau.
Es war ein vierjähriges Mädchen, das liebte seinen Vater über alles. Für sie war klar: „Wenn ich gross bin, heirate ich Papi.“ Es ging in Konkurrenz zur Mutter, denn ohne Zweifel, sie würde bestimmt die bessere Frau für den Vater sein. Aber der Vater reagierte nicht auf diese Liebe. Er ging morgens früh aus dem Haus und kam am Abend erschöpft nach Hause und ging mit der Mutter ins Bett. Am Sonntag wurde im Auto über Land gefahren und der Vater sass am Steuer. Aus dieser Situation heraus wurde das Mädchen schwer krank. Sterbenskrank. Und siehe, jetzt hatte der Vater plötzlich Zeit für sie. Er sass stundenlang an ihrem Bett. Durch seine Präsenz bekam die Kleine neuen Lebensmut und erholte sich. Aber wieder zu Hause im Alltag, wieder das alte Lied: der Vater hatte keine Zeit für sie. Sie kam zur Erkenntnis: „Ich muss krank sein, um geliebt zu werden.“
Leidet die Seele, leidet auch der Körper. Da ihr Leiden eine psychische Ursache hatte, wurden auch von der Ärzten keine Symptome gefunden. Wie üblich in solchen Fällen, wurde sie von Arzt zu Arzt geschickt, von einem Spezialisten zum andern. Keiner konnte ihr helfen. Daraus entstand ein weiterer Glaubenssatz: „Ich bin voller Schmerzen und keiner sieht es!“ Jeder Mensch, der in ihre Nähe kam, bekam ihn zu hören. Sie suchte und wollte das Mitleid und bekam es. Mitleid anstelle von Liebe. Ein nutzloses Getue. Ein mageres Ersatzgefühl.
Leider haben sich die modernen Gesellschaftsformen derart entwickelt, dass darin wirkende Menschen ihren Wesen entfremdet werden. So ist es kaum mehr möglich, dass ein Neugeborenes sich seinem Wesen gemäss entwickeln kann. In den ersten Lebensmonaten mag es noch sein, dass das Kleine bedingungslos geliebt wird, aber bald stellen sich Bedingungen ein. Es muss Bedingungen erfüllen, die seinem Wesen widersprechen, damit es geliebt wird. Es muss das Lügen lernen und Gefühle entwickeln, die ihm das Überleben gewährleisten. Es muss Gefühle und Strategien entwickeln, die ihm Streicheleinheiten und Anerkennung bringen. Daraus entstehen Ersatzgefühle, die sich wie echte anfühlen, die jedoch den Sinn eines echten Gefühls nicht erfüllen.
* Elisabeth Kübler-Ross (* 8. Juli 1926 in Zürich; † 24. August 2004 in Scottsdale, Arizona) war eine schweizerisch–US-amerikanische Psychiaterin. Sie befasste sich mit dem Tod und dem Umgang mit Sterbenden, mit Trauer und Trauerarbeit sowie mit Nahtoderfahrungen und ist eine der Begründerinnen der modernen Sterbeforschung.