Begierde und Lebensglück
Manuskript © Simon E. Siegrist
Nach einer vielwöchigen Wanderschaft durch den nordöstlichen Himalaja und weiter Richtung Süden, nahe der Grenze zu Burma, kam ich in den Ashram eines merkwürdigen Meisters. Die Adresse wurde mir von einem betagten Mönch eines Klosters in Ladakh empfohlen. Dieser meinte, ich sei für den asketischen Weg der Erkenntnis ungeeignet. Er selber glaubte von sich, dass er den falschen Weg gegangen und deshalb nie ans Ziel gekommen sei – ausser Quälereien keine wirklichen Einsichten, die seine Gespaltenheit geheilt hätten und von Gottes Nähe keine Spur. Er sei in der täglichen devoten Dienerei stecken geblieben. „Geh, bevor es zu spät ist!“ rief er mir zu. Ich ging. Schon am nächsten Tag war ich wieder unterwegs.
Ich selber wollte nicht Mönch oder Klosterbruder werden. Ganz und gar nicht. Ich fühlte mich in meiner Entwicklung in einer Sackgasse, mir selber fremd und gespalten. Ich sehnte mich nach Einheit und suchte nach meinem Selbst. Ich glaubte bei irgend einem Weisen in Indien oder Nepal fündig zu werden. Also machte ich mich auf. Ich war damals bereits seit bald zwei Jahren unterwegs. Bis anhin vergebens. Aber unter keinen Umständen wollte ich aufgeben.
Ich war ein blinder Sucher. Dass ich wach und zum Finder wurde, verdanke ich einem etwas verrückten alten Weisen und seiner kleinen Gemeinschaft.
Am empfohlenen Ort angekommen stand ich, von der langen Wanderschaft müde und ausgebrannt, vor einem geschlossenen Tor. Das Ashram war von einem Maschendrahtzaun und einem Lebhag umgeben, dichtes Gehölz, das keinen Durchblick gewährte. Urwaldhaft. Ich ging ein Stück der Umzäunung entlang – es schien ein sehr ausgedehntes Grundstück zu sein. Nach hundert Schritten kehrte ich zum Tor zurück und zog die Glocke – ein greller, aufreizender Klang, der mich nervte. Ich wartete. Stille. Ich zog die Glocke nochmals und wartete weiter. Ich fühlte mich beobachtet, konnte jedoch niemanden wahrnehmen. In dieser Einsamkeit, bei schiergar unerträglicher Hitze, von der Welt abgeschieden, vor einem Tor warten zu müssen, da rebellierte mein Temperament. Ich spürte meine Ungeduld und einen Anflug von Ärger. Mit einigen lauten Rufen schaffte ich mir Luft. Da hatte ich eine Empfehlung mit dieser Adresse und wurde in der Sonne stehen gelassen. Mich quälte Durst und Hunger. Ich entschloss mich, vor dem Tor mein Lager aufzuschlagen und begann meinen Rucksack auszupacken. Da hörte ich ein leises, vergnügtes, mädchenhaftes Kichern, das ganz aus der Nähe kam. Entdecken konnte ich niemanden. Aber ohne Zweifel kam es aus den Ästen eines wuchtigen Baumes, der zum Ashram gehörte, von dem aus bestimmt ein guter Ausblick auf meinen Standort möglich war.
Wenig später öffnete sich das Tor. Vor mir stand eine fröhliche, kindlich anmutende Frau. Sie war nur leicht mit einem durchsichtigen Seidenumhang bekleidet. Ihre weiblichen, runden Formen kamen durch und durch zur Geltung. Ihre schamlos wirkende Freundlichkeit reizte mich und ich wollte meinem angestauten Ärger Ausdruck geben. Da stellte sie sich mit offenen Armen vor mich hin und lachte, als ob sie einen alten Bekannten vor sich hätte. Sie lachte aus Freude. Sie lachte mit ihrem ganzen Wesen – ein Lachen, das alles enthielt und mich befremdete. Meine Erziehung befahl mir die Augen zu schliessen und davon zu rennen. Vor Überraschung blieben mir die Worte im Halse stecken, ich blieb stehen und genoss ihre Umarmung. Einmal mehr bekam ich den doppelten Ursprung der menschlichen Herkunft zu spüren. Der himmlisch-christliche Geist stand im Widerspruch zu meiner Natur. Meine Triebhaftigkeit meldete sich unmittelbar kräftig und fordernd. Ein Erschauern und Verlangen zugleich. Die Moral mit der Botschaft der Sünde liess mich jedoch erstarren.
Ihre warme Stimme wirkte fraulich: „Das Tor öffnet sich stets in dem Moment, wenn der Ankömmling aufgeben will. Für mich ist es allerdings das erste Mal, dass einer sein Lager vor dem Eingang aufschlagen will.“
Sie umarmte mich erneut und hiess mich im Ashram des „Freundes aller spirituell Suchenden“ herzlich willkommen. „Wir erwarten dich schon seit einigen Tagen.“
Ich packte meine Sachen wieder zusammen, schulterte meinen Rucksack und folgte unbeholfen und steif der sehr jugendlich wirkenden, vom Aussehen her vielleicht sechzehn Jahre alten Frau zum Haupthaus, das gute Hundert Meter vom Eingang entfernt stand. In unmittelbarer Nähe, unter Palmen und einheimischen Laubbäumen, von Sträuchern verdeckt, einige Hütten, Wohneinheiten für die Schüler und Besucher. Lianen und efeuartige Gewächse wucherten an den Bäumen empor oder hingen von den Ästen herunter. Mir fremde Pflanzen bildeten ein undurchsichtiges Gestrüpp. Die üppige, würzig riechende Vegetation wirkte betäubend. Eine brodelnde Sinnlichkeit, die sich durch das Verhalten der Bewohner noch verstärkte und meine über mehrere Monate gepflegte Askese unwiderstehlich in Frage stellte.
Die ersten Eindrücke waren verwirrend. Meine Vorstellungen von einem Ashram und einer Weisheitsschule entsprachen ganz und gar nicht dem, was ich hier vorfand. Keine Asketen, keine Klosterschule, sondern einen Garten der Liebe und der Lebensfreude – und der Freundschaft.
Ynna, das weibliche Wesen, das mich am Tor empfing, führte mich zuerst in die Küche, ein offener Ort unter einem Blechdach, mit einer Feuerstelle und einigen Eimern gefüllt mit Wasser, zur Gefährtin des Freundes aller spirituell Suchenden. Eine nährende Mutter wie aus einem Bilderbuch, ein Wunschtraum für jeden Säugling. Sie sass mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, ihr Schoss lediglich leicht mit einem feinen, durchsichtigen Baumwoll- oder Seidentuch bedeckt. Ihre prallen und festen Brüste nackt und einladend, so als ob sie die ganze Welt mit Muttermilch verwöhnen könnte. Ihr ganzes Wesen strahlte aus einer Innerlichkeit, wie ich es bis jetzt noch nie an einer Frau sehen konnte. Ihre Stimme mütterlich, etwas leise aber sehr bestimmt. Sie hiess mich herzlich willkommen und empfahl mich ihrer Tochter zur Betreuung. Bald musste ich feststellen, dass mit Tochter nicht ihre leibliche gemeint ist. Sie sagte allen Frauen im Ashram Tochter, so wie alle Anwesenden sie mit Mutter ansprachen – zu den Männern sagte sie stets „mein Sohn“.
„Meine Tochter wird das Beste für dich tun. Sobald du ausgeruht und frisch bist, werden wir miteinander über deinen Aufenthalt bei uns reden.“
Fünf weitere Frauen schlossen sich dem Begrüssungsritual an. Alle nur mit einem feinen, durchsichtigen Tuch bekleidet, das mehr dem Insektenschutz diente, als der Bekleidung. Drei Männer kamen hinzu, nackt bis auf den Lendenschurz.
Das waren also die Bewohner des Ashrams. Quasi eine Familie. Sieben weibliche und drei männliche Artgenossen. Sie lebten von dem, was ihnen der grosse, gepflegte Garten bot. Früchte und Gemüse im Überfluss. Also äusserst bescheiden, äusserst gesund, dementsprechend paradiesisch. – Und von den Spenden der Sucher aus dem Westen, die für die gesuchte innere Befreiung gerne einen Obolus entrichteten.
Paradiesisch im wahrsten Sinne. Von der reichen Natur umgeben, im warmen Klima einer tropischen Landschaft, lebten sie unbekleidet, ohne Scham und Ziererei. Für mich ein Schock. Meine zur Askese neigende Einstellung wurde hart angegangen. Meine Tendenz zur Flucht bekam reichliche Nahrung. Meine Erziehung stand im Widerstreit mit der Neugier, meinem Drang nach Wissen. (Die Neugier wurde von meinen Erziehern dem Bösen gleichgestellt.) Dazu meine sonderbar erregte Natur, die Begierde, die instinktive Intelligenz meines ausgehungerten Leibes, die nach Erlösung schrie. Ich litt an einer Gespaltenheit ohnegleichen. Der Geist war gegen die Natur und die Natur wider den Geist. Dazwischen gab es nur eines: Leiden.
Wenige Tage später bekam ich darauf eine lapidare Antwort, was zu tun ist, damit das menschliche Glück in mein Leben einziehen konnte. Der Meister kannte das einzig richtige Rezept: „Der Geist fällt nicht vom Himmel! Du musst dir einen Geist schaffen, der auch deiner Natur entspricht!“
Der Meister konnte gut reden. Die mir in der Kindheit eingetrichterten Glaubenssätze boten dagegen ein Bollwerk, das sich nicht so leicht knacken liess.
„Dann bleibt dir das Leiden bis du zur Einsicht kommst.“ Das heitere Grinsen des Alten, das mit diesen Worten einherging, war so eindringlich, dass ich nur mit einem verzweifelten Schrei reagieren konnte.
Vom Meister, der solche Worte sprechen konnte, war allerdings bei meiner Ankunft nichts zu sehen. Ich musste zwei Tage warten bis ich ihn zu Gesicht bekam.
Ynna, das mädchenhaft anmutende, bald dreissig Jahre alte Wesen, kümmerte sich sehr fürsorglich um mich. Vermutlich war sie für mich bestimmt worden. Nachdem sie mir die Füsse gewaschen, gesalbt und mich bewirtet hatte nahm sie meine Kleider mit in ihre Hütte und gab mir ein Lendentuch. „Mehr brauchst du bei uns nicht!“, sagte sie sanft und lächelte ein ebenso sanftes Lächeln. „Du wirst bald entdecken, dass einengende, alles bedeckende Kleider bei uns sehr unbequem sind und das Leben sehr erschweren. Unsere Nacktheit hat aber damit nichts zu tun. Unser Freund-aller-Suchenden wird dir dazu bestimmt einiges zu sagen haben.“
Ich wehrte mich vehement und weigerte mich diese schamlose Nacktheit mitzumachen. Das ging mir wirklich zu weit. Aber ich konnte meinem erneuten Impuls, den Ort sofort wieder zu verlassen, nicht nachgehen, denn ich stand ohne Kleider da, lediglich mit einem Tuch in den Händen, mit dem ich nicht umzugehen vermochte. Und wieder ihr fröhliches Lachen. Ich empfand es als Schadenfreude und begehrte auf.
„Geh jetzt schlafen und ruhe dich aus.“ Und nochmals verwies sie mich auf den Freund-aller-Suchenden, der mir dann alles erklären und beibringen werde. „Schliesse das Moskitonetz, sonst bist du am Morgen zerstochen wie ein Sieb.“
Sie liess mich alleine und ging auf Distanz. Keine Annäherung. Aber immer, wenn ich unruhig wurde, aufwachte oder etwas brauchte war sie zur Stelle und umsorgte mich. Als ich ihr, spontan berührend, etwas zu nahe kam und zum erotischen Spiel animieren wollte, wies sie mich streng zurück: „Wir sind keine Huren und leisten keine Sexdienste. Bitte, missbrauch unsere Offenheit nicht. Unsere Offenheit ist keine Einladung an sexuelle Freibeuter. Unsere Nacktheit heisst, dass wir nichts zu verbergen haben und rein bis ins Innerste sind. Wenn wir mit einem Partner verschmelzen, heisst das ein Einswerden mit der Schöpfung, ein Einswerden mit dem Kosmos, der Universellen Energie. Das Märchen vom biblischen Sündenfall gehört nicht zu unserer Kultur. Wir haben das Paradies wieder gefunden und leben, frei von Sünde all das, was christliche Kirchen tabuisiert haben. Hast du schon eine Rose gesehen, die schamhaft ihren Kelch bedeckt? Sie zeigt sich doch in ihrer ganzen Schönheit, so wie sie ist.“
Ausgeruht, nach zwei Tagen im Ashram, mischte ich mich unter die Anderen. Alle freuten sich, dass ich da war. Keine Überschwänglichkeit, keine Aufdringlichkeit, keine Neugier, keine Ausfragerei. Es schien, als ob ich schon immer zu ihnen gehörte. Ganz selbstverständlich. Mich erstaunte ihre Offenheit, das unmittelbare Aussprechen dessen, was wahrgenommen und empfunden wurde. In einer Ausdrucksweise, die mir fremd war, in einer Stimmungslage, die ohne jegliche Aggression war, sanft, nüchtern, sachlich.
„Gerade das macht unsere Offenheit aus“, erklärte mir die Gattin des Meisters. „Jede zurückgehaltene Empfindung, alles was du unterdrückst, macht dich verschlossen, verarmt dich in deiner Ausdrucksweise. Bei uns gibt es nichts zu verbergen, da wird niemand erniedrigt, alle achten einander. Lerne eine Ausdrucksweise mit der du alles sagen kannst, ohne andere zu verletzten.“
Ich betrachtete die Sprecherin diesmal offen und neugierig. Meine Haare sträubten sich. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie eine betagte Frau in leichter Hülle in ihrer Nacktheit zu sehen bekommen habe. Diese Schamlosigkeit! Nein: Diese Schönheit ausgereifter Sinnlichkeit! Eine Ausstrahlung von Zufriedenheit, Fülle und Lebendigkeit. Sie lebte hier und jetzt all das, was die christlichen Kirchen, bei einem artigen Leben, auf das Jenseits hin versprachen. Mit einer körperlichen Intelligenz ohnegleichen. Ihr Alter musste irgendwo zwischen fünfzig und siebzig liegen – und ich begehrte sie. Ich konnte ihrer Ausstrahlung nicht widerstehen. Schamröte stieg mir ins Gesicht. Sie strich mir sanft über die Haare und sagte mitfühlend: „Ich verstehe dich. Du wirst es schaffen. Wenn du Probleme hast, komm ungeniert zu mir.“
Eigentümlich war, dass in diesem Ashram das Wort Meister nicht gebraucht wurde. Der Meister war der spirituelle Freund aller, der für die Identifikation mit ihm und dem Universum offen stand.
Nach der Nachmittagsruhe brachte mich die kindlich anmutende Frau wohlgelaunt zum Meister, dem spirituellen Freund aller. Er lag nackt in einem Sarg unter einem Seidennetz, das ihn vor den lästigen Insekten schützte. Wie ein Toter, die Hände auf der Brust gekreuzt. Die Augen geschlossen. Der Atem ging kaum bemerkbar in langsamen Intervallen. Sein Phallus erigiert.
„Seine tägliche Meditation“, belehrte mich meine Begleiterin. „Da legt er sich hinein und wenn er wieder heraus kommt, ist er energetisch aufgeladen, frisch und munter. Neugeboren, wie er sagt. Er wird dich gleich begrüssen.“
Der in der Liegekiste Meditierende hatte offenbar die Stimmen gehört. Er blinzelte und öffnete die Augen. Ich war überrascht und zugleich sofort ergriffen. Ich sah nur das Leuchten seiner Augen. Ein Leuchten, ja ein Strahlen aus einer anderen Sphäre. Zugleich fühlte ich mich durchschaut, nicht eindringlich, sondern erfassend, irgendwie verständnisvoll, verzeihend. Ich spürte, vor diesem Manne gab es nichts zu verbergen, zugleich wusste ich, dass ich in diesem Ashram für eine Lehrzeit bleiben wollte. Ich war mir sicher, dass ich mich als Schüler diesem „Spirituellen-Freund-Aller“ unterwerfen durfte. Instinktiv nahm ich augenblicklich eine ehrerbietige Haltung ein, ohne jedoch meine Wachheit aufzugeben. Das Verzeihende, das von diesem Weisen ausging, brauchte ich, um auf meinem Weg weiter zu kommen.
„Aha, du bist also mein neuer Schüler. Ich habe dich erwartet. Wieder einer aus dem Westen, der meint, er müsse sich selber in der Fremde suchen. Die Menschen dort müssen sich selber sehr fremd geworden sein. Sicher hast du schon gehört, dass Gott in dir ist. Weshalb kommst du dann nach Indien, um ihn hier zu finden?“
Seine Stimme war warm, freundlich und klar, aber auch spöttisch. Er wartete meine Antwort nicht ab. Spontan hätte ich auch keine geben können. Zu verblüfft war ich.
Mühelos, ja elegant, beinahe jugendlich stieg er aus der Liegekiste und legte sein Lendentuch um. Von alt und gebrechlich keine Spur. Dabei, so schien es mir, tat er jede Bewegung bewusst. Er muss jede Bewegung wahrnehmen, und ganz in seinem „Spüren“ sein. Er schien all das zu haben, was ich seit Jahren suchte – das heisst, wovon ich gelesen habe, nie selber erfahren habe und nicht wusste, was es eigentlich ist. Ich wusste nur, dass ich nach etwas Wesentlichem suchte, das mich befreien sollte. Dafür nahm ich alle Leiden in kauf, so auch die wochenlange, entbehrungsreiche Wanderung durch Indien, nur um einem sagenhaften Ruf eines dubiosen, alten Weisen zu folgen, einem Ruf, der mehr Traum als Wirklichkeit war.
Jetzt war ich hier. Ein eigenartiger, sehr vitaler Mann, mittlerer Grösse, schlank, stand vor mir. Er bewegte sich wie ein fröhlicher, munterer Jüngling, zugleich hatte er eine Strahlung, licht und heiter. Schüttere, weisse und lange Bart- und Kopfhaare. Sein Alter liess sich nicht einschätzen und er selbst wusste es nicht. Darauf angesprochen, sagte er immer lachend: „Geist kennt kein Alter!“ Seine Angetraute und Lebensgefährtin konnte dazu nur sagen, dass er schon vor vierzig Jahren, als sie sich mit ihm vermählte, gleichermassen weiss, vital und jung war.
So erschien er mir, immer noch etwas voreingenommen, als ein Weiser mit einer sonderbaren emotionalen Intelligenz. Auch sein Intellekt schien universell gebildet. Mit einer Logik, die zwingend war. Zudem ein Wissen, das mich immer wieder zum Staunen brachte. Er schien aus einer ewigen, unerschöpflichen Quelle zu schöpfen.
Er fragte mich nach meinem Suchen.
„Ich suche nach Erlösung von meinen Leiden!“
Er schaute mich wie aus einer anderen Welt an: „Du leidest weil du gespalten, getrennt bist. Du hast einen Geist, der gegen deine Natur ist und die Natur kann nicht anders, und zwar mit Recht, als gegen diesen Geist sein. Jeder trägt zweierlei Prägungen mit sich herum. Die Urprägungen, welche die Natur zum Überleben und zur Arterhaltung geschaffen hat. Später kamen die geistigen, oder kulturellen Prägungen hinzu, Überlebensschlussfolgerungen, Glaubenssätze. Die Folge davon ist, dass sie einander bekämpfen, weil, vor allem im Westen, religiöse Gebote und Glaubenssätze der Natur feindlich gesinnt sind. Die Quintessenz ist, dass du dir einen neuen Geist schaffen musst, der deiner Natur wohlgesinnt ist. Sobald du das mit deiner persönlichen Intelligenz getan hast, bist du wieder gottselige Einheit im Paradies. Erkenntnis hat den Menschen aus dem Paradies vertrieben, Erkenntnis wird dich wieder dorthin zurück bringen. Das ist die Kunst, das Paradies zu finden. Um dieses Ziel zu erreichen, musst du dich selber erkennen. Das ist der einzige Weg!
„Solltest du mich fragen, wie das alles zustande kam, habe ich dir eine wunderbare Antwort: Die Trennung liegt weit zurück, zu einer Zeit als der Mensch noch Natur war, wie die Blumen des Feldes, die Rose im Garten. Die Trennung geschah als ein naturfeindlicher Geist ins Leben eingriff. Woher dieser kam und der Entwicklung dreinredete ist immer noch umstritten. Vielleicht kamen fremde Intelligenzen als Astronauten auf die Erde und haben im Urwald einige Affenweiber befruchtet. Danach begann bei diesen neuen Wesen ein Grosshirn zu wachsen. Dann wäre alles brav beisammen. Eine Mutter-Natur, die im Urwald beheimatet ist und einen Vater-Geist, der seine Herkunft in den Sternen sucht.“
Er lachte schelmisch und ging davon. Dabei brummte er in seinen weissen Bart: „Ich gehe jetzt meinen Tempel besuchen.“
Ich staunte nicht wenig. Er ging jugendlich, frisch auf seine Frau zu, winkte ihr, zog sich mit ihr in eine Hütte zurück. Auf meine Nachfrage, was das zu bedeuten habe, bekam ich wiederum von Ynna zur Antwort: „Er ist Bewusstsein und Energie und hält das Feuer der Begierde aufrecht, damit er lebendig bleibt, jung und munter.“
„Und dazu braucht er seine Frau?“
„Es ist unklug und es dämmt das Bewusstsein ein, das Begehren auf ein einzelnes Objekt auszurichten. Wenn es abhanden kommt, ist die ganze Welt leer; das Gleichgewicht geht verloren, so dass nichts mehr anderes wahrgenommen werden kann. Die Folge ist Leiden.
„So kann es täglich eine andere sein? „Also auch du?“
„Nur solche, die eingeweiht sind. Begierde ist die Glut des Lebens. Wir tun es, um unsere Wohlgefühle zu pflegen, die Freude am Sein zu feiern und die göttliche Verbundenheit zu erneuern, um lebendig zu bleiben.
„Und die drei anwesenden Männer?“
„Sie sind auf dem Weg. Jeder hat eine Yogini, die sie aktiv begleiten. Es geht immer um die persönliche Befreiung. Sie müssen, wie du, zuerst von den schlimmen Folgen der Askese befreit werden. Auf dem Weg, gibt es allerdings Wertvorstellungen, die jeder loslassen muss.“
„Und du?“
„Ich bin eingeweiht.“
„Das heisst, dass du zu seinem Tempel wirst, wenn er dich ruft?“
„Ich muss einverstanden sein und er spürt, wenn ich das bin.“
Meine beiden letzten Fragen überraschten mich selbst. Ich spürte eine keimende Eifersucht. Das muss Ynna aus meiner Stimme gehört haben. Sie betrachtete mich erstaunt und sagte schlicht: „Jetzt bin ich jedoch deine Lehrerin und bin ganz auf dich ausgerichtet. Sobald du das Göttliche in mir zu erkennen vermagst, können wir daran gehen, zu erkennen, dass die Begierde die Glut des Lebens ist und alles Lebendige ausmacht. Lerne die Göttin in mir zu verehren und ich werde für dich zum Liebestempel. Immer, wenn du es willst. Es liegt an dir den Weg zu gehen, um das Wesen der Begierde zu erkennen und um dich zu erneuern.
„Das Leben ist die Begierde selbst – selbst dann, wenn du die Begierde abtöten willst, um dir den Himmel zu verdienen, ist auch das wiederum eine Begierde. Begierde ist des Lebens Antriebskraft.
„Das gilt für alle Menschen gleichermassen. Ohne Unterschied. Du bist uns fremd und wir müssen auch dir fremd sein. Wir werden vom Bewusstsein getragen und du von deinem Verstand. Eigentlich kennst du dich selber nicht. Als intelligenter Mensch bist du auf der Suche nach dir selber. Deshalb bist du hier. Wir nehmen dich vorbehaltlos auf, weil wir wissen, dass du durch deine Erziehung in die Irre geführt worden bist. Sobald du in der Universellen Energie bist, gibt es zwischen dir und mir keinen energetischen Unterschied mehr, auch zu unserem Freund-Aller und allen anderen Eingeweihten des Ashrams. Da wir in dieser Energie ohne Unterschied sind, ist die Vereinigung mit jedem gleichermassen glückselig. Die Differenzierung erfolgt durch das Bewusstsein. Es ist stets das Bewusstsein, das über allem steht. Der kürzeste Weg zu dieser Energie ist, indem du dich mit unserem Freund-Aller identifizierst. Hingabe an einen ganzheitlichen Menschen, ja Anpassung an ihn, ist das A und O der Erkenntnis. Er steht dir als Wegweiser gerne zur Verfügung. Das ist der Grund weshalb du hier bist. Wenn es sonst ginge, hättest du im Westen bleiben können.“
Nach dieser Belehrung zog ich mich in meine Hütte zurück. Ich legte mich hin, um die jüngsten Erfahrungen und das Gehörte zu verdauen. Niemand störte mich. Mir wurde mein Wille gelassen. Niemand rief mich zum Nachtessen, niemand störte mich während der Nacht, die ich schlaflos, mich hin und her wälzend, mit quälenden Fragen verbrachte. … und meine Natur liess mir keine Ruhe. Das Feuer der Begierde loderte lichterloh.
Gleich am andern Morgen, nach meinem Spaziergang durch die teils wild wuchernde Parkanlage, traf ich den Freund aller Suchenden. Er begann wie absichtslos zu Plaudern:
„Es ist alles sehr einfach. Höre auf deine Natur, entdecke was sie braucht und überlege dir, wie du deren Bedürfnisse in Übereinstimmung mit deinem Verstand befrieden kannst – immer aus einem Wohlgefühl heraus. Wohlgefühle sind wichtig, weil du damit in den Kontakt mit den heilenden Energien kommst. Leiden hat keine Heilkraft. Anfänglich kommst du vielleicht in einen Konflikt mit deinem christlichen Gewissen. Vergiss es einfach. Es hilft dir nicht weiter. Das Gewissen beruht auf Unwissen. Beginne also mit deinen eigenen Erfahrungen, sammle deren Ergebnisse und du wirst von Selbst zum Wissenden und Weisen heranwachsen.“
Darauf erzählte er mir von seinen eigenen Erfahrungen. Dabei manövrierte er sich mehr und mehr in eine Vaterrolle, der seinem Sohn die tiefsten Geheimnisse des Menschseins erklärte und sich dabei bis ins innerste entblösste. Auf das Sterben und Wiederwerden ging er besonders liebevoll ein.
„Täglich lege ich mich in den Sarg, löse mich von allem ab. Ein Abschied von allem, zugleich ein Willkommensgruss an den Tod. Sobald ich frei bin und bereit zu sterben, schiesst die schöpferische Energie machtvoll in meinen Körper. Ich bin vom Scheitel bis zur Sohle erigiert. Mein praller Phallus ist lediglich ein äusseres Merkmal dafür. Eine Neugeburt. Angefüllt mit universeller, kosmischer Energie. Göttlich. Jetzt bin ich die Schöpfung selbst – ein Partner der Schöpfung. In jungen Jahren ging ich damit unter die Leute und predigte: Macht aus eurem Körper ein Tempel der Liebe und nährt ihn mit Wohlgefühlen. Das heilt euch von euren Leiden und Krankheiten. Ich war ein Wohltäter und wurde zum Lehrer – aber auch die Zahl der Feinde wuchs. Ich zog mich zurück und begann im kleinen Kreise zu wirken.“
Nach langer Pause, während der er sich nackt sauber machte und sich erfrischte, sagte er voller Heiterkeit: „Vergiss einfach, dass der Mensch ein fixfertiges Produkt einer genialen Schöpfung ist. Der Mensch ist über Jahrmillionen aus der Natur heraus gewachsen und zu dem geworden, was er heute ist. Er ist noch nicht am Ziel und wird weiter wachsen. Lange Zeit gedieh er als primitives Zellwesen ohne jegliches Bewusstsein. Was dieses Wesen zum Leben brauchte waren Licht und Wasser. Noch heute schwärmt der Mensch von Licht und Wasser – Sonne und Meer. „Ironischerweise wurde das Licht zum Symbol des Geistes und das Wasser jenes der Seele. Alles eigenartig, einzigartig und erstaunenswert.
„Zu welchem Zeitpunkt Erkenntnis und Bewusstsein eintraten und dadurch die Einheit mit der Natur verloren ging ist vermutbar. Die seltsame Parabel über den Verlust des Paradieses ist ein Hinweis. Mit dem Erwachen des Geistes geschah die Trennung. Woher der geistige Ursprung kommt ist das Thema vieler Spekulationen und Nahrung für verschiedene Glaubensrichtungen. Es entstanden Fehlinterpretationen, die heute noch tragische Auswirkungen haben. Tatsache ist, dass der Mensch fortan gespalten war und damit begann das grosse Heimweh, das Leiden schlechthin. Jeder möchte das Leiden vermeiden und sucht nach den Ursachen des Glücks. Jeder sucht nach glückhafter Triebbefriedigung, nach Selbstverwirklichung und Einheit. Der Einte oder Andere sucht nach der Einheit im Geiste und versucht die Natur zu überwinden. Die Natur macht dieses Spiel jedoch nicht mit. Sie lässt sich nicht ungestraft dressieren.
„Der bequemere Weg ist, die eigenen Begierden zu erforschen und ihnen zu entsprechen, bis du zu erkennen vermagst, dass die Begierde das Leben selbst ist. Das, was die Begierden verlangen, brauchst du auch für deine Entwicklung und für dein Weiterkommen. Sie bekämpfen heisst, dich selber und das Leben bekämpfen. Mach aus deinem Leib einen Tempel der Liebesfreuden und pflege die Glut der Begierde. Die Freiheit, die dadurch entsteht, ist wiederum das Leben selbst.
„Finde zurück zu deiner Natur. Schaff dir ein Bewusstsein, das deiner Natur entspricht und schick den naturfeindlichen Geist zurück in den Himmel. Der asketische Geist ist kein besonders gutes Geschenk, das sich der Mensch aufgebürdet hat. Die daraus entstandene Natur- und Menschenfeindlichkeit bringt den Menschen nicht weiter. Vergiss das alles und koste die Geschenke der Natur.
„Solange du einem Geist angehörst, welcher die Natur als verdorben betrachtet wirst du das Glück nicht finden. Der Drang nach glückhafter Triebbefriedigung ist und bleibt die Grundlage aller Glückseligkeit. Schau dich um! Lerne ganz und gar auf dieser Welt zu sein, hier in unserem Garten. Ohne Zukunft und ohne Vergangenheit. Sobald du ganz hier bist und ganz im Jetzt, gibt es kein Ego mehr. Du hast alles, was dich glücklich macht.“
Seine Worte verwirrten mich und liessen mich an seinem Geisteszustand zweifeln. Ich hörte Widersprüche und Ungereimtheiten und trotzdem bargen sie eine Wahrheit, die tief in mich eindrang. Erst die Zeit lernte mich seine Worte zu verstehen.
Die Anmut der Frauen hingegen, wie sie miteinander umgingen, auf mich zukamen und wirkten, überzeugten mich so, dass es mir leicht fiel, auf Zusehen hin, im Ashram zu bleiben. Sie nahmen mich ohne Vorurteil und tabulos an. Wenn ich seine Schülerinnen und Schüler so sah, konnte der spirituelle Freund mit seiner Lehre nicht so falsch sein.
Bevor der Freund sich für heute zurückzog, erklärte er mir noch: „Die besten Erzieherinnen für das, was ich zu vermitteln habe, sind die Frauen. Alle, die hier wohnen, sind eingeweihte Yoginis. Ynna wird dich in den Alltag des liebenden Miteinanders einführen. Um glücklich zu sein braucht es keine Exerzitien. Das Akzeptieren der banalen Realität genügt.“ Lachend, ganz auf mich ausgerichtet meinte er noch: „Jede Frau in meiner Familie wird dir zum Engel, wenn du fähig bist, sie als Engel zu sehen. Übe dich darin und du wirst bald mit Engelszungen reden.“
Das Akzeptieren der banalen Realität, sollte das wirklich alles sein? Ein totales Leben im Hier und Jetzt? Dazu müsste man im Paradies sein. Im Paradies? In der westlichen Welt kann dieses Paradies wohl nicht liegen. Dafür wurde dort die falsche Hirnseite entwickelt. Durch die einseitige Entwicklung gedieh in jenen Landen eine Utopie, ein Traum, der, moralisch gründlich ausgeschlachtet, ein Paradies versprach, das bei einem guten Leben, nach dem physischen Tod stattfinden soll. Ein Traum, der viel zu weit vom Menschen entfernt ist. Demgegenüber blieb im Osten die rationale Entwicklung des Gehirns im Hintertreffen. Deshalb sind die Menschen dort noch näher am Paradies. Sobald sich die beiden Entwicklungen in der Mitte treffen, erfährt der Mensch einen Reifegrad, der die Ganzheit ausmacht. Dann kann ein Hier und Jetzt gedeihen, welche Träume und Utopien überflüssig machen.
Von allen Empfehlungen und Einsichten, die der weise Freund mir an den Kopf warf, blieb eine wie in Stein gehauen, gemeisselt, vor mir stehen: „Schaff dir einen Geist, der deiner Natur entspricht.“ Wie sollte ich? Mir wurde von der Kirche beigebracht, dass die menschliche Natur verdorben ist, dass jeder, der das Glück will, sich an die biblischen Gebote, die kirchliche Tugendlehre zu halten und asketisch nach Reinheit zu streben hat.
Auf meine Vorbehalte erwiderte der Freund lakonisch: „Na ja, du bist nicht der Erste, der sein Über-Ich ausmisten muss.“
Die Pflanzen und die Blumenpracht im Garten, die Obstbäume mit ihren Früchten, das fruchtbare Gedeihen wo das Auge hinschaute, erleichterten das Bemühen einen solchen Geist zu schaffen. Ich verstand plötzlich, weshalb der Beruf eines Gärtners der glückhaft-beste auf Erden sein soll. Ein Gärtner der Liebe! Ich musste mich lediglich auf die Natur ausrichten, sie beobachten, auf sie hören und ihr freundlich begegnen. Die Natur: eine Lehrmeisterin ohnegleichen. Weshalb sollte die menschliche Natur nicht dieselben Qualitäten aufweisen? Wieso sollte die menschliche Natur, aus dem Geist betrachtet, verdorben und böse sein? Komischer Geist.
Um meiner Natur zu entsprechen musste ich mit vielen Glaubenssätzen auseinandersetzen. Da gab es tatsächlich sehr vielen Mist auszuräumen. Auch einige Tabus, die eingefleischt waren. Ich sah im Ashram des spirituellen Freundes keine Eifersucht und keinen Neid. Ich sah eine Einheit von Mensch, Geist und Natur; Spiel und Zeitvertreib; Lebensfreude und Lust; ein liebevolles Miteinander. Der einzige Fremdkörper darin war ich mit meinen kulturellen Prägungen und meiner Erziehung. Es dauerte Monate bis ich nichts mehr zu verbergen hatte, nackt dastehen, loslassen und mich voll einfügen konnte.
Ohne die kindlich anmutende Frau, die mich empfangen, gewaschen und gefüttert hatte, die mir mein spiritueller Freund als Lehrerin und zur Einweihung empfahl, hätte ich die Integration nie geschafft. Sie gedieh rasch zu einem liebevollen, geduldigen Engel, der aus mir ein Wesen hervorzauberte, von dem ich selber keine Ahnung hatte. Es erschien mir fremd. Ich wehrte mich beharrlich dagegen. Ich glaubte zeitweise, dass ich mich mehr und mehr zu einem Weichling entwickelte und durch den spirituellen Sex in diesem Ashram verdorben wurde.
Sie ging sehr vorsichtig ans Werk. Denn was hier geboten wurde, hatte Hand und Fuss. Keine blaue Theorie aus dem reizenden Nichts. Der Mensch ist Mensch und hat als Mensch zu leben. Er hat seine Sinne, seine Bedürfnisse, seine Begierden – alles Voraussetzungen, um in den Geist hinein zu wachsen. Nicht durch Verdrängung und Abtöten, sondern durch das intelligente Ausleben, durch Spiel und Zeitvertreib. Das Paradies ist hier und jetzt, jeden Augenblick.
Wie bei mir üblich, eigentlich normal, sass oder stand ich stets einwenig vornüber gebeugt, so als ob ich eine Last auf meinen Schultern zu tragen hätte. Eines Morgens nahm sie mich in ihre Hände und richtete mich sanft fühlend auf. Natürlich gab ich Widerstand und stemmte mich dagegen. Ich wusste zur Genüge, dass sie keinen Sex wollte. Für mich jedoch hiess Berührung gleichviel wie Sex. Augenblicklich war ich erregt. Zum xten Mal erklärte sie mir, dass Berührung und Zärtlichkeit keine Einladung zum Geschlechtsverkehr bedeuten, sondern Zeugnisse einer bedingungslosen Liebe.
„Richte dich auf! Wie kannst du in deiner Seele und in deinem Geiste aufrichtig sein, wenn du nicht einmal fähig bist, eine aufrechte Körperhaltung einzunehmen? Wir leben nicht mehr im Urwald, sondern du lebst als Mensch unter Menschen. Jede Sonnenblume trachtet nach der Sonne, richtet sich auf und dreht sich nach ihr. Du aber meinst, du müsstest eigensinnig vor dich hin brüten und deine rückständigen Ansichten pflegen. Richte dich auf, bevor du etwas sagst. Dann nehmen deine Lügen von selbst ein Ende. Es sind deine Gedanken, die dich vergiften und krank machen. Es ist an der Zeit, dass du von deinen körperlichen Verschmutzungen frei wirst.“
Sie war überzeugt davon, dass die Körperhaltung der geistigen Einstellung entspricht – dass durch die Körperhaltung sich der Geist manifestiert. Der Körper ist das Gehäuse in dem sich der Geist manifestiert, oder wie es oft vom Volksmund zu hören ist, der Tempel der Seele. Für viele jedoch eine absurde Brutstätte des Leidens, wie der „Freund-Aller“ bei Gelegenheiten spöttisch bemerkte.
„Übe die Achtsamkeit. Durch Achtsamkeit entsteht Bewusstheit. Alles, was dir bewusst, ist verliert seine magische Kraft – auch Gott, wenn er zu Bewusstsein gedeiht. Also erkenne dich selbst und deinen Gott in dir. Sobald du dein verdrängtes Ich gefunden hast brauchst du auch keine Askese mehr. Es gibt viele Menschen, die Verwechseln ihr verdrängtes Ich mit Gott und quatschen damit die Welt voller Unsinn.
„Beginne die Selbsterkenntnis mit der Achtsamkeit auf den ein- und ausströmenden Atem. Das ist der richtige Anfang. Das sagte schon Buddha vor mehr als 2500 Jahren. Bis heute wurde nichts besseres gefunden – ohne Achtsamkeit geschieht gar nichts. Sei achtsam auf alle deine Sinne …“
Es war eine tropisch warme Nacht. Der Kosmos zeigte sich in seiner ganzen Schönheit. Ynna lud mich ein, die Nacht mit ihr im Freien zu verbringen, um uns auf die Kosmische Energie einzustimmen. Ich hatte von der Verschmelzung mit dem Kosmos schon einiges gehört, wusste jedoch nicht viel darüber und war neugierig, was daraus werden sollte.
Wir lagen nahe beieinander auf dem Rücken, auf einer Unterlage, die uns vor unwillkommenen Ungeziefer schützen sollte. Eine Vorsichtsmassnahme wie sie nicht nur in den Tropen zu empfehlen ist.
„Wenn du so daliegst und in die Sterne schaust, prüfe ob du wohl auf deiner Unterlage eingebettet bist. Du musst immer darauf achten, dass du dich stets bewusst wahrnehmen kannst. Gott ist in dir. Achte darauf und übe dich darin, dass dein Körper zum Tempel der Liebe wird, damit Er sich in dir wohlfühlen kann. Du trägst Ihn schon seit Jahren mit dir herum und suchst Ihn überall auf der Welt, nur nicht in dir.“
Ich erschrak über die Einfachheit ihrer Anleitung. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich Gott nirgends oder überall dort, wo ich mich befinde, finden kann. Darüber habe ich bestimmt schon vieles zu hören bekommen, aber in diesem Augenblick gedieh mir das schon so oft Gehörte zur Erkenntnis. Die Erkenntnis war, als ob ein Leuchten aus meinem Innersten käme.
Meine Begleiterin doppelte nach: „Dann wirst du jetzt erkennen, dass das Göttliche in mir ebenso leuchtet wie in dir. Wenn du es nun zu erkennen vermagst, dass auch ich gleichermassen Teil des Göttlichen bin, dann steht unserer Vermählung nichts mehr im Wege. Wenn ich dich in mich aufnehme, wisse, dass sich das Göttliche durch uns verbindet. Du verehrst das Göttliche in mir und ich verehre das Göttliche in dir. Sobald dir das einleuchtet, werde ich für dich zum Tempel der Liebesfreuden.“
Oh ja, der Rausch der Erkenntnis dauerte. Bald war ich nur noch Liebe. Als ich einmal mehr, auf dem Rücken liegend, zum Kosmos hinauf schaute und in meiner Begierde prall aufgeladen war, konnte Ynna nicht widerstehen.
„Du bleibst, so wie du jetzt liegst, voll erigiert, auf dem Rücken liegen. Ich besteige dich rittlings und nehme deinen Sprössling in meinen Schoss – in meinen Tempel der Liebesfreuden. Bitte bleib ruhig liegen, keine heftigen Bewegungen, atme tief aus – den Atem nicht anhalten. Tief ausatmen. Stell dir vor, dass du über deinen Sprössling in meine Pforte ausatmest, verbunden mit einer leichten, inneren Bewegung nach vorn. Mit dem Einatmen ziehst du dein Becken leicht zurück. Geh immer mit dem Rhythmus deines Atems und bleib in der Tiefe.
„Bleib ruhig liegen. Es vergehen vielleicht zwanzig Minuten und du wirst den Himmel erleben. Verehre die Göttin in mir und besudle sie nicht mit deinem Samen.“
Das ist leichter gesagt als getan!
Bevor ich unter freiem Himmel einschlief, hörte ich noch Ynnas liebevolle Stimme: „Es wird noch eine Weile dauern bis du den Samenerguss vom Orgasmus zu trennen vermagst. Da werden wir wohl fleissig üben müssen.“
Ich nahm die ganze Glückseligkeit mit in den Schlaf. Die Schönheit des Kosmos ging völlig vergessen und musste eine weitere Nacht auf mich warten.
Die nächste Nacht unter freien Sternenhimmel! Wieder redete Ynna und gab Anweisungen. Diesmal folgte ich ihr willig. Allerdings hatte ich nur noch das Liebemachen im Kopf. Ein schiergar endloses Erschauern. Ynna fand das wunderbar. „Du bist auf dem richtigen Weg! Nur lass uns Weiterschreiten.“
Das astronomische Wissen um den Kosmos, auch das Kennen der astrologischen Sternzeichen halfen mir wesentlich beim Betrachen des Himmels und boten mir reichlich Stoff für die Unterhaltung mit meiner Lehrerin. Sie hatte jedoch anderes im Kopf – oder auf dem Herzen?
„Spüre deinen Atem – deinen ein- und ausströmenden Atem. Du bist jetzt hier und jetzt und ganz offen für die universelle, schöpferische Energie. Sie fliesst in deine Mitte, du bist Teil davon. Und nun betrachte die Schönheit des Kosmos. Du brauchst den Himmel nicht mit Fantasiegestalten zu besiedeln. Das unterlasse bitte. Die nackte Schönheit des Kosmos genügt, um dich erschauern zu lassen und um die schöpferische Energie zu erfahren. Die Einheit damit ist das Ziel unserer Hingabe.“
Ich lag da, neben einer Frau, beide nackt, nur mit einem feinen Tuch bedeckt. Ich berührte sie und sofort war ich erigiert. Ynna reagierte wie üblich sehr behutsam. „Es ist wunderbar, dass die Nähe einer Frau, in dir eine derartige Schwingung auszulösen vermag. Dadurch kannst du die ursprüngliche Kraft wahrnehmen und erleben, die von deiner Mitte ausgeht. Es ist jedoch falsch, diese durch einen banalen Geschlechtsakt zu vergeuden. Das führt nicht zur Glückseligkeit. Um die Fähigkeit des Entzückens zu erlangen, gibt es nur einen Weg: den Atem zusammen mit allen Sinnen, auf einen einzigen Punkt auszurichten – dann erreichst du jene höchste Lust, die dein Selbst ausmacht. So richte denn deinen Atem und alle deine Sinne auf das Liebemachen aus, Tag und Nacht und achte auf die dahinter wirkende Urenergie. Die Wachheit wird dir erlauben, diese Urkraft von der Sexualität zu trennen, damit du sie in anderen Bereichen des Lebens einzusetzen vermagst – immer aus deiner Ganzheit heraus.“
Sie konnte gut reden. Mich quälte die Erektion, hier und jetzt. Sie riet mir, meine ganze Achtsamkeit, hier und jetzt, auf den ein- und ausströmenden Atem auszurichten. Das würde meine Erregung auflösen. Ich tat es und es half.
Sie plauderte munter weiter. „Die Sexualisierung der Berührung ist ein Intelligenzmangel, der dadurch entsteht, dass Berührung sexualisiert wird.“
Es ging eine Weile, bis ich dieses Wortspiel begriff. Bestimmt hatte sie es von ihrem Freund und Lehrer übernommen. Sie liess mir jedoch keine Zeit, um lange zu überlegen. Sie setzte sich auf und betrachtete mich und sprach weiter: „Sex mag ein Trost sein. Durchaus verständlich. Dahinter steckt ein Mangel an Berührung aus früher Kindheit. Aber wisse , wer das Betasten sexualisiert, kann sich geistig nicht weiter entwickeln. Zärtlich gestreichelte Neugeborene werden Intelligent und werden später die Berührung nicht Sexualisieren, sondern den Tastsinn ohne Absichten und Bedingungen für das eigene Wohlbefinden und dasjenige anderer einsetzen. In sogenannt primitiven Kulturen, in vielen Völkern in Asien und Afrika, massieren Mütter die Neugeborenen bewusst und aktivieren damit die verästelten Nervenstränge – sie nennen das „vollenden“. Ein Kind kommt nicht nur durch die Geburt zur Welt. Säuglinge, die nicht berührt werden, entwickeln sich schlecht. Seine Hirnfunktion wird gestört. Sie können sogar eingehen.“
Aus diesen Worten musste ich annehmen, dass meine Hirnfunktion gestört ist. Langsam begriff ich. Meine Erziehung kam mir erneut in die Quere. Meine Entscheidung stand jedoch fest: Ich wollte für meinen Gott-in-mir, einen Tempel der Liebe und Schönheit werden. Schönheit, weil diese ein direkter Ausguss Gottes ist – wenn ich Ihm entspreche, wird Schönheit Seine Antwort sein. Durch diese Strahlung werde ich Seine Existenz bezeugen. Es kann nicht anders sein, weil Er in mir ist. „Ich bin frei und gestalte mich und mein Leben mit Intelligenz und Liebe.“
Das war meine Schlussfolgerung auf all das, was mir mein Freund in einigen Gesprächen mitgab. Er schöpfte dabei aus einem enormen Wissen und zitierte dabei auch christliche Mystiker. Er überzeugte mich.
Da ich meine gestörte Hirnfunktion heilen wollte, lernte ich das absichtslose Massieren. Eine Wohltat für den Empfangenden und Gebenden. Ganz einfach ohne irgendwelche Absicht! Zusammen mit dem bewussten Atem, begann schon nach wenigen Wochen meine Haut duftiger und lebendiger zu werden. Das gab mir auch die Erklärung, weshalb Ynnas Haut immer angenehm, süsslich duftete, ohne Anwendung von Parfum.
Ich war Begierde und Leidenschaft und beides liess mich den Himmel erleben. Wieder einmal quälte mich das Feuer der Begierde. Ynna massierte mich in bedingungsloser Liebe, ohne jegliche Absicht. Von der Leidenschaft ermüdet schlief ich dabei ein. Für wenige Minuten bloss und ich wachte in einer völlig neuen Energie auf. Hellwach, klares Bewusstsein, hier und jetzt. Ich schaute Ynna in die Augen. Ein Aufleuchten. Wir waren in der gleichen Energie. Ein Kopfnicken. Sie öffnete sich und wurde zu meinem Tempel der Liebesfreuden. Ohne Worte. Wir verweilten zeitlos, verschmolzen und liessen uns von den Schauern erfüllter Freuden beglücken. Fortan gab es kein Halten mehr. Weder für Ynna noch für mich. Wir beglückten uns täglich, oft mehrmals. Ich konnte den Samenerguss bald einmal vom Orgasmus trennen und das liess mir die Kraft für mehrfaches Lieben.
Die Verbundenheit, die dabei entstand, ist unbeschreibbar. Die totale Glückseligkeit. Wir lebten ungebrochen monate- ja jahrelang eine, der Symbiose ähnlichen, Einheit. Bei mir gab es nur einen Drang, für immer in ihrem Schosse eingebettet zu sein – mich in meiner Erektion, in dieser Energie zu spüren. Bald hatten wir dieselben Gedanken, dieselben Wünsche, dieselben Impulse. Ein dauerndes Erschauern hielt mich im Banne. Der Meister, der Freund aller Suchenden, war sehr zufrieden. Für ihn war ich zu einem Finder geworden.
Niemand gab es, der unser Glück störte. Wir wurden wie Heilige geachtet, die ins Paradies eingegangen sind.
Die Zeit war vergessen. Es existierte keine Welt, die Ansprüche an uns stellte. Nahrung fanden wir im Ashram zur Genüge. Wir brauchten nicht viel und lebten von Obst, Beeren und Kräutern. Es gab keine Sorgen, nur das Glück der Verschmelzung, meist in einer Geborgenheit spendenden Hütte aus Bambus und Palmenblätter. Aber der Rückzug dorthin musste nicht sein. Der ganze Ashram spendete Geborgenheit. Wir konnten frei und offen ineinander verschmelzen. Kein Neid, kein Unwille störte uns.
Aber – der Mensch besteht offenbar noch aus anderen Begierden. Immer mehr, anfänglich kaum störend, kam der Drang mich mit der Schöpfung selbst zu verschmelzen. Ich hielt es für verschroben und schob es zur Seite. Ich verdrängte es. Ein neuer Wahn, mehr nicht. Der Drang jedoch wurde immer stärker. Da begannen aus der Verschmelzung heraus Worte zu fliessen. Anfänglich kaum bemerkbar. Mit der Zeit immer wahrnehmbarer. Worte die kamen und gingen. Worte, die kurz auftauchten, einen Sinn bekamen und verschwanden – und vergessen gingen. Der Versuch, im Nachhinein den Sinn der mir zugeflossenen Worte neu zu fassen, misslang. Irgendetwas davon blieb jedoch im Gedächtnis hängen. Sie wurden durch mich selber Gestalt. Meine Haut wurde feiner und feiner, samtig, meine Bewegungen rund und zart, mein Reden warm und weich. Einfühlsam begann ich auf die Mitmenschen einzugehen. Oft konnte mein Bewusstsein einen Hauch dessen einfangen, was feinstofflich in mir vorging. Die unmittelbare Poesie des Augenblickes brachte ahnungsweise das biblische Hohelied der Liebe zum Erklingen.
Es war kein Suchen. Die Worte flossen aus einer zeit- und selbstlosen Sphäre, ohne Sinnen und Trachten. Die Verschmelzung war die Voraussetzung. Manchmal wusste ich nicht mehr, war ich mit meiner Geliebten verschmolzen oder mit der ganzen Schöpfung. Es öffnete sich eine sprudelnde Quelle. Ich besang die Frau, und deren Energie als das, was Gott ausmacht. Ich glaubte mich verrückt. Das Glück, das ich dabei empfand, war dermassen, dass es mir völlig gleichgültig war, welches abwertende Wort die westliche Kultur dafür zur Verfügung hat. Eines schien mir allerdings ausserordentlich: ich verlor das Bewusstsein nicht. Ich war stets wach und konnte jede Regung in mir beobachten – und ich konnte meinen Zustand lustvoll geniessen. Ich verlor den Boden nicht. Die feingliederigen Hände meiner Gespielin hielten mich fest. Eigenartigerweise konnte ich bald einmal ihre Erscheinung visuell nicht mehr festhalten. Ich war für das Äussere wie Blind geworden. Ich erkannte dafür ihre Ausstrahlung, das, was energetisch von ihr ausging. Kam eine andere Frau aus dem Ashram in meine Nähe, die in derselben Energie war – und welche war es nicht? – konnte ich keine Differenz feststellen. Daraus ergaben sich spontane Verschmelzungen. Wir waren bald alle zusammen ein grosser Schmelztiegel. Das war er eigentlich schon immer. Es lag an meinen Defiziten und an meiner kulturellen Prägung, dass ich ihn nicht früher erfahren konnte. Mein Hineinwachsen dauerte mehr als zwei Jahre.
Der Freund-aller meinte: „Du bist jetzt auf dem Urgrund der Begierde angelangt, der Schöpfung selbst. Ihr zu folgen ist deine Freiheit.“
Ich wollte auch dieser Begierde entsprechen, selber schöpferisch werden und mich durch mein Tun und Dasein bezeugen und mich offenbaren. Dafür musste ich den Ashram verlassen und mich selbst, als Person, als lebendiges Zeugnis unter die Menschen begeben. Ich liess mir Zeit. Es war für mich nicht einfach das Paradies zu verlassen.
Jeder Drang will glückhafte Erfüllung. Die Verweigerung brächte Leiden.
Ich verbrachte gesamthaft sieben Jahre in Indien, beinahe fünf Jahre davon beim Freund aller Suchenden. Eine sehr wertvolle Zeit. Ich bin satt geworden. Alle Defizite aus meiner Kindheit, meiner Erziehung und der rationalen Einseitigkeit der westlichen Kultur, waren behoben. Ich fühlte mich in mir zufrieden und geborgen, rund, in einer Ganzheit eingebettet. Eine Ganzheit selbst. Jetzt wollte ich meiner Begierde nach kultureller Verwirklichung entsprechen. Da wurden die lieblichen, engelhaften Yoginis des Paradieses zur Behinderung. Ich zog meine Kleider an, bedeckte meine Blösse und reiste, nach einem letzten Reigen der Liebe, wieder zurück in den Westen, in jene Kultur wo ich einst das Licht der Welt erblickte.
Aber nicht alleine. Die Überraschung war perfekt. Ynna war einwandfrei gekleidet, mit allen Reisedokumenten versehen, abreisebereit. Eine Inderin mit englischem Reisepass. Auf mein leeres Schlucken und erstauntes Fragezeichen im Gesicht, meinte sie bloss: „Was derart leidenschaftlich der Begierde dient, wirft kein vernünftiger Mensch über Bord! Wir beide haben den gleichen Weg.“